Nacht des Orakels
Palace betrat – obwohl «glücklich» in diesem Zusammenhang vielleicht ein wenig seltsam klingt. In warmen Nächten schliefen Grace und ich immer nackt, aber da nun die kalte Jahreszeit begann, trug sie wieder ihr weißes Seidennachthemd, und als ich im T-Shirt zuihr unter die Decke kroch, stellte sie keine Fragen. Und als wir (am Sonntagabend) miteinander schliefen, war es so dunkel, dass sie von den Schrammen nichts mitbekam.
Als ich am Sonntagmorgen die
Times
kaufen ging, rief ich Trause von Landolfi’s aus an. Ich erzählte ihm alles von meinem Besuch bei Jacob, woran ich mich erinnern konnte, einschließlich der Tatsache, dass sein Sohn keine Sicherheitsnadeln mehr in den Ohren trug (zweifellos eine Vorsichtsmaßnahme), und gab ihm einen Abriss dessen, was er von meinem Eintreffen bis zu dem Augenblick, da ich ihn hinter der Treppenbiegung verschwinden sah, von sich gegeben hatte. John wollte wissen, ob ich glaube, dass er den ganzen Monat bleiben oder vorzeitig davonlaufen werde, worauf ich antwortete, das könne ich nicht beurteilen. Er habe ominös von irgendwelchen Plänen geredet, sagte ich, was darauf hinweise, dass es Dinge in seinem Leben gebe, von denen niemand in der Familie etwas wisse, Geheimnisse, die er mit keinem teilen wolle. John meinte, vielleicht habe das etwas mit Drogenhandel zu tun. Ich fragte zurück, wie er denn darauf komme, aber von einer flüchtigen Anspielung auf das unterschlagene Studiengeld abgesehen, gab er darauf keine Antwort. An dieser Stelle geriet das Gespräch ins Stocken, und während wir beide schwiegen, brachte ich endlich den Mut auf, ihm von dem Missgeschick zu erzählen, das mir Anfang der Woche in der Subway passiert war: dass ich
Das Reich der Knochen
verloren hatte. Der Augenblick, mit dieser Sache herauszurücken, war so ungünstig gewählt wie nur möglich, und Trause verstand zunächst einmal gar nicht, wovon ich redete. Ich fing noch einmal von vorne an. Als er begriff, dass sein Manuskript wahrscheinlich bis zur Endstation in Coney Island gefahrenwar, lachte er. «Quäl dich nicht deswegen», sagte er. «Ich habe noch ein paar Exemplare von dem Text. Damals hatten wir noch keine Kopiergeräte, und jeder hat beim Tippen immer mindestens zwei Durchschläge angefertigt. Ich steck dir einen in einen Umschlag und lass ihn noch diese Woche von Madame Dumas zur Post bringen.»
Am nächsten Morgen, Montag, begab ich mich zum letzten Mal in das blaue Notizbuch zurück. Vierzig der sechsundneunzig Seiten waren bereits voll geschrieben, aber es war noch mehr als genug Platz für ein paar Stunden Arbeit übrig. Etwa in der Mitte fing ich eine neue Seite an, das Flitcraft-Debakel ließ ich für immer hinter mir. Bowen würde ewig in diesem Raum eingesperrt bleiben, und ich kam zu dem Schluss, dass ich meine Anstrengungen, ihn daraus zu befreien, nun endgültig aufgeben sollte. Wenn ich aus meiner heftigen Begegnung mit Chang am Samstag etwas gelernt hatte, dann war es dies: Das Notizbuch brachte mich in Schwierigkeiten, und was ich darin zu notieren versuchte, konnte immer nur scheitern. Jede Erzählung würde mittendrin abbrechen; jeder Plan würde mich nur ein Stück weit tragen, und dann würde ich aufblicken und feststellen, dass ich mich verrannt hatte. Trotzdem ärgerte ich mich über Chang so sehr, dass ich ihm nicht die Befriedigung gönnen wollte, das letzte Wort zu behalten. Von dem portugiesischen
caderno
würde ich mich natürlich verabschieden müssen, aber nur zu meinen eigenen Bedingungen, denn sonst würde es mir als moralische Niederlage nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ich glaubte, wenigstens mir selbst beweisen zu müssen, dass ich kein Feigling war.
Ich stieg langsam ein, vorsichtig, eher von Trotz motiviert als von dem unwiderstehlichen Bedürfnis zu schreiben.Bald jedoch richteten sich meine Gedanken auf Grace, und ich ließ das Notizbuch offen auf dem Schreibtisch liegen und ging ins Wohnzimmer, um eins der Fotoalben herauszusuchen, die wir in der unteren Schublade einer Eichenkommode aufbewahrten. Zum Glück hatte der Dieb es bei dem Einbruch am Mittwochnachmittag nicht angerührt. Das Album war uns besonders teuer, ein Hochzeitsgeschenk von Graces jüngerer Schwester Flo, mit über hundert bildlichen Dokumenten der ersten siebenundzwanzig Jahre von Graces Leben – Grace, bevor ich sie kennen gelernt hatte. Ich hatte mir das Album seit der Entlassung aus dem Krankenhaus noch nicht wieder angesehen, und als ich an diesem Vormittag in meinem
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