Nacht des Schicksals
Mal, als sie ihn an jenem Heiligabend wie Luft behandelt hatte.
Gestern Abend hatte sie ihn erneut verleugnet. Sie hätte noch nie Bier getrunken, hatte sie behauptet und dabei gelacht. Damit hatte sie alles, was zwischen ihnen geschehen war, für nichtig erklärt. Wie konnte er ihr noch glauben? In seinem tiefsten Inneren hatte er immer verstanden, warum sie ihn zurückwies. Sie hielt ihre Affäre mit Brodie Spencer für einen Fehler und wollte diesen nicht wiederholen. Doch für eine Lügnerin hatte er sie nie gehalten. Wie sehr hatte er sich in ihr geirrt!
Am nächsten Morgen fuhr Kendra um neun bei den Spencers vor, um Megan abzuholen.
Hayley kam an die Tür. “Megan ist fertig”, erklärte sie. “Willst du noch auf einen Kaffee hereinkommen?”
“Ich habe meine Ration heute Morgen schon gehabt”, lehnte Kendra lächelnd ab. “Aber vielen Dank. Und vielen Dank fürs Babysitten.”
“Nach allem, was du in der letzten Woche für uns getan hast, schulde ich dir mehr als nur einen Abend. Ruf mich nur an, wenn du das nächste Mal mit Brodie ausgehen möchtest.”
Ein nächstes Mal wird es bestimmt nicht geben, dachte Kendra. Brodie hatte das sehr deutlich gemacht. “Vielen Dank, Hayley. Ich werde daran denken. Könntest du Megan herausschicken? Ich warte im Wagen auf sie.”
Was für ein Feigling war sie doch. Sie hatte Angst, Brodie zu begegnen und sich abermals seinem feindseligen Blick auszusetzen.
Sie ging zum Wagen zurück, und Augenblicke später kam Megan strahlend über den Rasen gehüpft. Sie stieg ein, und bevor sie den Sicherheitsgurt anlegte, beugte sie sich über den Schalthebel und gab ihr einen Kuss. Als der Wagen anfuhr, winkte sie Jodi zu, die in der offenen Tür stand.
Brodie war nirgendwo zu sehen. Kendra war darüber sehr froh.
“Mr Spencer hat heute einen schrecklichen Tag”, berichtete Megan. “Jodi meint, dass er krank wird, denn er ist sonst nie schlecht gelaunt. Am Samstagmorgen hilft er immer beim Hausputz mit, aber da du das meiste schon während der Woche erledigt hast, hat er sich diesmal irgendwohin verzogen. Aber zum Essen will er wieder zurück sein.”
Plötzlich klang sie bedrückt. Ihre anfängliche Fröhlichkeit war verschwunden.
“Was ist los?” Kendra warf ihr einen Seitenblick zu.
Megan seufzte. “Ich hatte gehofft, dass Jodi mich für den Nachmittag einladen würde.”
“Du hast dich doch hoffentlich nicht selbst eingeladen?”, fragte Kendra scharf.
“Natürlich nicht, Mom! Ich weiß, dass sich das nicht gehört. Es hätte mir auch nichts genützt. Jodis Dad hat sie vor dem Frühstück beiseite genommen und sie daran erinnert, dass die Samstagnachmittage für die Familie reserviert sind.”
Kendra fragte sich, ob Brodie diese Regel wegen ihrer gestrigen Auseinandersetzung wieder eingeführt hatte. Es war gemein von ihm, seinen Zorn an ihrer Tochter auszulassen. Das hätte sie ihm nicht zugetraut.
“Und darüber bist du traurig?”
Megan nickte. “Ich gehöre ja nicht zur Familie.”
“Nein”, bestätigte Kendra leise. “Du gehörst nicht zur Familie.” Und das wirst du auch nie, fügte sie in Gedanken hinzu.
Sie konnte Megans Gefühle gut verstehen. Megan war ein Einzelkind … vielleicht sogar ein einsames Kind. Doch in dieser vergangenen Woche war sie in einer großen, warmherzigen Familie aufgenommen worden und hatte aus erster Hand erfahren, was es hieß, Geschwister zu haben. Sie hatte einen Vorgeschmack davon bekommen, was es hieß, zu Brodies Sippe zu gehören … Und nun sehnte sie sich nach mehr.
Natürlich würde sie, Kendra, versuchen, den Verlust wettzumachen. Aber wie sollte sie sich mit dem messen, was das Kind im Haus in der Calder Street gefunden hatte?
10. KAPITEL
Der September ging und mit ihm das warme Wetter. Die Morgenstunden waren frisch und kalt, die Blätter der Ahornbäume begannen sich zu verfärben, und auf den Gipfeln der Berge war neuer Schnee zu sehen. Kendra lebte noch immer im Motel, doch langsam konnte sie es nicht mehr erwarten, nach Hause zurückzukehren. Noch mehr allerdings wollte sie endlich dem täglichen Anblick von
Lakeview Construction
entkommen.
Am Montag nach ihrer Auseinandersetzung hatte Brodie das Rosemount-Projekt an einen Mann namens Sam Fleet abgegeben. In den folgenden Tagen hatte Sam sie eingehend über die neue Einrichtung ihrer Küche beraten. Brodie bekam sie nicht mehr zu Gesicht.
Megan und Jodi waren noch immer beste Freundinnen, doch zu ihren gegenseitigen Besuchen benutzten
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