Nacht des Schicksals
nicht anwesend war, konnte sie ihm nicht entrinnen. Sie ließ die Gardine fallen und bückte sich, um das Haarband aufzuheben. Auch wenn er sie im Zorn verlassen hatte, war er doch bei ihr. Er war in ihrem Herzen, an einem ganz besonderen Platz. Den würde er für immer einnehmen.
Brodie zerrte wütend an seinem Kopfkissen und drehte sich ruhelos auf den Rücken. Er griff über dem Kopf nach dem Bettgestell und sah finster zur Decke hinauf. Die Blätter der großen Eiche im Garten warfen im Mondlicht wirre Schatten auf die weiße Fläche.
Acht Jahre lang hatte er die Erinnerung an den Tag des Konzerts der Black Bats in Seattle verdrängen können. Doch vorhin, als er Kendra in den Armen gehalten hatte, waren die Erinnerungen auf ihn eingestürmt. Als hätte er die Büchse der Pandora geöffnet, ließen sie sich jetzt nicht mehr zurückdrängen, sondern entwickelten ein Eigenleben. Unbarmherzig zerrten ihn seine Gedanken zurück in jene Zeit, die er für immer in den tiefsten Tiefen seines Gedächtnisses verborgen geglaubt hatte.
Mit drei Freunden war er, Brodie, frühmorgens in einem rostigen, klapprigen Wagen zum Merivale Park gefahren. Einer von ihnen – war es Dirk Grayson gewesen? – hatte vier Tickets für das Konzert gewonnen. Sie hatten sich seit Wochen darauf gefreut.
Es war ein wundervoller Spätsommertag gewesen. Das Wetter war heiß gewesen und das Bier kalt. In freudiger Erwartung war eine riesige Menschenmenge wie ein Bienenschwarm zum Merivale Park geströmt. “Das Leben könnte nicht schöner sein”, hatte er fröhlich vor sich hingemurmelt.
Er erinnerte sich noch gut, wie er sich vergnügt an einer der Buden angestellt hatte. Er hatte das Hemd ausgezogen und genoss die Wärme der Sonne auf seinem bloßen Rücken. Der Duft gegrillter Würstchen und gebratener Zwiebeln in der Luft, das kühle Bier in seiner Hand … Ja, das konnte ein wundervoller Tag werden!
Selig lächelnd wandte er sich ab, als plötzlich etwas Blondes an ihm vorbeigeschossen kam und ihm den Burger aus der Hand schlug, bevor er einen einzigen Bissen davon gegessen hatte.
“He!”, protestierte er. “Kannst du nicht …?”
Dann glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. War das eine Erscheinung? Das konnte doch nicht wahr sein! Sie schaute zu ihm auf und schien genauso überrascht wie er.
“Es tut mir leid!” Kendra Westmores Stimme bebte. “Ich habe nicht aufgepasst.”
Um sie herum strömten die Massen. Sein Burger war längst unter trampelnden Füßen zerquetscht. Nicht, dass es ihn gestört hätte! Dieselbe Menge drängte ihn nämlich an das Mädchen seiner Träume. Er war wie berauscht vom Blumenduft ihres Haars.
“Ich kaufe dir einen Neuen”, sagte sie und griff nach ihrem Rucksack. Sie trug ein rosa Top und weiße Shorts. Ein rosa-weiß kariertes Band hielt ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Die Strähnen schimmerten im Sonnenlicht mal goldgelb, mal platinfarben. Wie gebannt starrte er sie an. Er war ihr noch nie so nahe gewesen.
Kendra räusperte sich. “Ich kaufe dir einen Neuen”, bot sie erneut an.
Brodie schluckte, denn sein Hals war plötzlich ganz trocken. “Oh nein, das ist schon in Ordnung.” Er sah sich um. Rund um sie her drängten sich die Menschen im Park, essend, trinkend, lachend. “Mit wem bist du hier?”
Sie antwortete nicht.
Er sah sie fragend an. Sie war blass, und ihre Mundwinkel zitterten.
“Ich bin mit meiner Cousine gekommen”, sagte sie leise. “Ashleigh. Sie ist neunzehn und wohnt in Seattle. Sie hat jemanden getroffen … so einen Typen, den sie von früher kannte. Der wollte, dass sie mit ihm geht.” Sie zuckte hilflos die Schultern. “Da ist sie eben gegangen.”
Brodie spürte Ärger in sich aufsteigen. “Sie hat dich einfach allein gelassen?” Das Mädchen schien Angst zu haben, und das war auch kein Wunder. Sobald es dunkel wurde, war dies kein Ort für ein junges Mädchen – schon gar nicht, wenn es aussah wie Kendra Westmore.
“Ich soll sie nach dem Konzert bei ihrem Wagen treffen.” Sie drehte sich um und deutete auf eine große Weide am Rand des Parks. “Der steht da drüben.” Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn. “Das mit deinem Burger tut mir leid. Aber wenn du wirklich keinen Neuen willst, werde ich dich nicht länger aufhalten.”
Ihn aufhalten? Fast hätte er laut aufgelacht. Seit er denken konnte, war er von diesem Mädchen besessen. Diese Chance würde er sich nicht entgehen lassen! “Du kannst mitkommen und bei uns
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