Nacht in Havanna
Fischen. Russo-Cubano fürwahr! Kubaner hatten den Club nie betreten dürfen, Einlaß nur für Russen. Alle Schilder, empfang, büffet, direktor, waren auf russisch. Unter dem Staub erkannte Ofelia ein Bodenmosaik mit Hammer und Sichel vor einem kaum erkennbaren blauen Wellenmuster. Das einzige Anzeichen für Aktivitäten jüngeren Datums war ein Lada mit Diplomatenkennzeichen, der in der Lobby stand. Durch eine der gläsernen russischen Fahnen in der Fassade fiel ein staubmatter roter Lichtstrahl auf den Wagen. Ein Klicken lenkte ihren Blick auf eine Glühbirne an einer Kordel, Büsten von Marti, Marx und Lenin, die eine Galerie im Zwischengeschoß säumten, und schließlich eine Ziege, die am Geländer der Galerie entlangtrippelte. Die Ziege starrte voller Verachtung nach unten. Nur eine Ziege hätte die Treppe erklimmen können, denn sie war durch die herausgerissene Fahrstuhlkabine blockiert. Kein großer Verlust, dachte Ofelia. Seit sich die Stromausfälle zu häufen begonnen hatten, trauten die Leute Fahrstühlen ohnehin nicht mehr. Statt dessen führte eine ausziehbare Leiter von der Lobby auf die Galerie. Weitere Ziegen tauchten auf. Am Steuer des Lada saß ein schwarzer Mann, der den Kopf in ihre Richtung verdreht hatte und sie anstarrte. Als er nicht antwortete oder ausstieg, zog sie ihre Waffe und öffnete die Tür. Heraus fiel Changö, die Puppe, mit dem nur angedeuteten Gesicht und den Glasaugen. Er trug Hemd, Hose und ein rotes Stirnband. Sie warf einen Blick in den Wagen. Auf dem Armaturenbrett waren rote Kerzen zu Wachstränen heruntergebrannt. Am Rückspiegel hingen eine Muschelkette und ein Rosenkranz. Das Läuten eines Glöckchens lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder zur Galerie, wo eine rötliche Ziege sich vorgedrängt hatte, den Hals reckte und in die Lobby stierte. Plötzlich erstarrte die ganze Herde und stob dann mit lautem Hufgetrappel auseinander, nicht ihretwegen, wie Ofelia klarwurde, sondern weil hinter ihr noch jemand aufgetaucht war. Ofelia bekam kaum mit, daß sie geschlagen wurde, sie spürte nur, daß sie zu Boden fiel und irgendwann später in einem Sack aufwachte, blind wie ein für den Markt verpacktes Kaninchen. Sie hatte ihre Pistole verloren, und eine große Hand lag fest um ihren Hals, um ihr klarzumachen, daß sie nicht schreien sollte. Als sich die Finger lockerten, explodierte süßer, milchiger Kokosnußgeruch in ihrem Mund.
Manchmal ist Ignoranz besser als Wissen. Isabels lang erwartete E-Mail aus Moskau leuchtete auf Pribludas Monitor.
Lieber Segej Sergejewitsch, was für eine Freude, von Dir zu hören, und was für eine Überraschung! Ich hätte Dir schon vor langer Zeit schreiben sollen, um Dir zu sagen, wie bestürzt ich war, als ich von Maria Iwanowas Tod gehört habe, die immer gütig zu allen war. Du kannst dich glücklich schätzen, eine solche Frau gehabt zu haben. Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als wir von einem Auftrag zurückkamen und so verfroren waren, daß wir kein Wort herausbrachten. Wir konnten nurauf die Frostbeulen auf unseren Nasen zeigen. Sie hat uns im Bad eine richtige banja bereitet mit Kräutern, Birken, kochendheißem Wasser und einer gekühlten Flasche Wodka. An jenem Tag hat sie uns das Leben gerettet. Die besten Menschen sind alle gegangen, das ist wahr. Und jetzt sitzt Du in den Tropen, und ich bin immer noch hier, obwohl ich kaum mehr als ein Bibliothekar bin. Allerdings ziemlich beschäftigt, jeden Tag will irgend jemand dieses oder jenes Geheimdokument einsehen. In der letzten Woche hatte ich Besuch vom Anwalt einer westlichen Nachrichtenagentur, der verlangte, daß ich ihm die sensibelsten KGB-Unterlagen öffnete, als ob es nur ein Familienalbum wäre. Ist denn gar nichts mehr heilig? Ich meine das halb im Spaß, halb im Ernst. Wir können nicht mehr einfach sagen: »Die, die wissen, wissen.« Diese Tage sind vorüber. Trotzdem muß man ein einmal gegebenes Versprechen auch halten, das ist mein Motto. Wenn diese Enthüllungen der Gesellschaft und der historischen Wahrheit dienen, wenn Verräter nicht mehr gefeiert und der Ruf ehrenwerter Männer nicht mehr zerstört wird, wenn unschuldige Menschen, die geglaubt haben, unter nicht selten gefährlichen Bedingungen nur ihre Pflicht zu tun, nicht mehr Opfer der neuen Maßstäbe werden, ja!, dann bin ich der erste, der alle Fakten ans Licht zieht.
Was mich zu Deiner Anfrage über den ehemaligen Führer der kommunistischen Partei Kubas, Lazaro Lindo, bringt. Du fragst
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