Nacht in Havanna
speziell, ob Lindo an einer sogenannten Partei-Verschwörung gegen den kubanischen Staat beteiligt war. Soweit ich mich erinnere, hat Castro behauptet, daß ein kleiner Kreis innerhalb der KP Kubas, der glaubte, Castro würde seine Landsleute in politische Abenteuer stürzen, sich mit der UDSSR gegen ihn verschworen hätte. Ob wahr oder falsch, die Konsequenzen waren massiv. Die Beziehungen zwischen Kuba und der Sowjetunion waren stark belastet, einige der treuesten kubanischen Parteimitglieder, unter ihnen auch Lazaro Lindo, wurden verhaftet. Die ganze Sache ist und bleibt eine höchst sensible Angelegenheit. Du verlangt von mir Beweise, daß es eine derartige Verschwörung nicht gegeben hat oder, wenn doch, daß Lindo nichts damit zu tun hatte. Wenn ich Dich richtig verstehe, könnte das seiner Tochter helfen, eine Reisegenehmigung zu bekommen. Leider kann ich Dir damit nicht dienen. Aber es war eine wundervolle Überraschung, von einem so alten Freund zu hören.
Mittlerweile ist übrigens das ganze Land ein Käse voller Maden. Aber du bist ja weit weg, hast es warm und hoffentlich trocken. Roman Petrowitsch Rosow Archivleiter Zentraler Sicherheitsdienst Rosowe@RRFISarch. org.
Arkadi druckte den Brief aus, um ihn Isabel zu geben, aber Pribludas alter Waffenbruder hatte sowohl die Verschwörung als auch Lindos Verwicklung darin praktisch zugegeben, und obwohl Arkadi Isabel nicht kannte und nicht einmal besonders mochte, hatte er Angst davor, ihr den Brief zu überlassen, weil er die Verzweiflung in ihrem Kuß gespürt hatte. Warum hätte sie ihn sonst küssen sollen?
Der Kuß hatte ihn wütend gemacht, weil er eine Travestie echten Begehrens gewesen war, ihr harter Mund, der sich auf seinen gepreßt hatte, bis er sie weggestoßen hatte. Trotzdem fragte er sich, ob auch ein Kubaner sie zurückgewiesen hätte. Oder irgendein anderer warmblütiger Mann?
Die andere Antwort, vor der er sich fürchtete, lag in dem Foto, das er Olga Petrowna abgelockt hatte, dem Bild, mit dessen Hilfe sich die Leiche im Leichenschauhaus schlüssig als Sergej Pribluda identifizieren ließ oder nicht. Seine Erleichterung darüber, Blas nicht in seinem Büro anzutreffen, war verräterisch gewesen. Arkadi hatte das Foto hinterlegt, anstatt auf den Pathologen zu warten, um mit Gewißheit zu erfahren, daß sich die Leiche in der Schublade Pribluda befand.
Arkadi faltete den Ausdruck aus Moskau zusammen und schob ihn unter Isabels Tür hindurch.
Auf wie viele verschiedene Arten konnte ein Mann ein Feigling sein?
Sie lag, die Arme an den Ellbogen gefesselt, in einem Sack im Kofferraum eines Wagens unter weiteren Jutesäcken. Ofelia hatte gedroht und gefleht, doch wer immer sie in den Kofferraum gesperrt hatte, hatte kein Wort gesagt, sondern war, wie sie an den sich entfernenden Schritten hören konnte, einfach weggegangen. Sie hatte nicht gesehen, ob es ein Schwarzer oder ein Weißer war, aber etwas tief in ihr hatte seinen Geruch gewittert, seinen Atem gehört, seine Geschmeidigkeit und seine Größe registriert und gewußt, daß es Luna war.
Sie schrie sich die Kehle wund, doch die Säcke, die man über sie gelegt hatte, dämpften ihre Stimme, so daß sie bezweifelte, daß man sie mehr als drei Meter entfernt überhaupt noch hören konnte, geschweige denn auf der Straße. Sie beschloß zu warten, bis sie jemanden hörte, obwohl sie nicht einmal die Erschütterungen eines vorbeifahrenden Autos spürte. Wer würde auch schon zum Centro Russo-Cubano fahren? Sie hätte genausogut auf dem Grund des Meeres liegen können.
Mit jedem Atemzug klebte das Sackleinen an ihrem Gesicht, Hanfund Kokosfasern kratzten in ihrem Mund und in ihrer Nase, und ihr wurde bewußt, daß sie bei den vielen sich über ihr stapelnden Säcken den größten Teil des Sauerstoffvorrats in dem Kofferraum bereits verbraucht haben mußte. Sie hatte nie eine ungewöhnliche Angst vor beengten Räumen empfunden, doch jetzt erforderte es all ihre Konzentration, nicht zu hyperventilieren und so die noch verbleibende Luft zu verschwenden. Sie spürte, daß sie auf ihrer Pistole lag, die sich jedoch außerhalb des Sacks befand. Zumindest verspürte sie noch keinen Druck auf der Blase und dankte Gott für diese kleine Gefälligkeit.
Irrelevante Kleinigkeiten kamen ihr in den Sinn. Sie fragte sich, ob der Kofferraum sauber war und was ihre Mutter für Muriel und Marisol zu essen kochen würde. Irgendwas mit Reis. Sie schmeckte ihre Tränen und ihren Schweiß.
Ofelia
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