Nacht in Havanna
Zigarrenkiste, noch an der Wand fand Ofelia Adressen oder Telefonnummern.
In dem Gebäude selbst gab es keine Nachbarn, die sie befragen konnte, also ging Ofelia über die Straße zu einer Yerbera, wo eine Tafel Guaven gegen Durchfall, Oregano gegen Verstopfung und Petersilie gegen Blähungen anpries. Über einem Coca-ColaSpiegel waren Andenken angeklebt, unter anderem eine Postkarte aus Mexiko, die Illustration einer Tänzerin mit der Art Rüschenrock, heller Hautfarbe und schwarzem Haar wie die Frau, die Renko geküßt hatte. Ofelia persönlich konnte das kaum gleichgültiger sein, aber sie war verärgert, daß der bolo nach all ihren Bemühungen, ihn zu beschützen, einfach irgend jemanden in seine Wohnung bat. Ofelia erinnerte sich daran, wie die Frau sich an Renko geschmiegt und sein Gesicht zu sich heruntergezogen hatte. »Hija?« Die Yerbera regte sich auf ihrem Stuhl. »Oh, ja.« Ofelia kaufte einen Beutel Mahagonibaumrinde gegen den Rheumatismus ihrer Mutter, bevor sie Hedy erwähnte. »Yerba buena«, erinnerte sich die Yerbera an die Arznei, die Hedy immer gekauft hatte. »Ein hübsches Mädchen, aber ein nervöser Magen. Eine Tänzerin. Wirklich eine Schande.« Die Frau kannte Hedy aus einer lokalen Tanzgruppe, die beim Karneval auftrat. Sechzig Tänzer, Trommler und Männer, die riesige Hüte auf dem Kopf balancierten, alle in der Farbe Yemayas gekleidet, blaue Wellen, die den Prado hinaufrollten, wo der Comandante persönlich die Parade abnahm. Sie erinnerte sich auch an Hedys Freund, der mit seinem Blick ein Loch in Holz brennen konnte.
»Da, das ist er.«
Ein Lada des Innenministeriums hielt vor Hedys Haus, und Luna stieg eiliger als gewöhnlich aus. Ofelia stellte sich mit dem Rücken zur Tür, nahm ihre Mütze ab und beobachtete die Straße im Spiegel, was bedeutete, daß sie weitere Empfehlungen der Yerbera und den Anblick der blöden Postkarte aus Mexiko ertragen mußte; aber es dauerte nur eine Minute, bevor der Sargento mit Hedys herzförmigem Kissen wieder aus dem Haus kam.
Doch es spielte keine Rolle, daß keiner der Kriminaltechniker, die Hedy Infantes Dachboden durchsucht hatten, das Kissen und die Fotos rechtzeitig sichergestellt hatte. Es spielte keine Rolle, ob sie Hedys kindische Habseligkeiten auf Fingerabdrücke untersucht hatten. Denn trotz all ihrer Erfahrung würde keiner von ihnen Hedy so gut verstehen, wie Ofelia es tat.
Ofelia lebte in zwei Welten. Die eine war die normale Welt des Schlangestehens in Lebensmittelläden und an Bushaltestellen, eine Welt voller Müll und blauer elektrischer Funken, wenn Fidel über den Fernsehschirm flimmerte, eine Welt bedrückender Hitze, die ihre beiden Töchter dazu veranlaßte, sich wie Schmetterlinge auf den kühlen Bodenfliesen auszubreiten. Die andere Welt war ein tieferes Universum, das ebenso real war wie die Adern unter der Haut, das Universum der sinnlichen Ochün, der mütterlichen Yemaya, des grollenden Changö, gute und böse Geister, die einem das Blut in die Wangen trieben, den Geschmack auf die Zunge, Farbe in die Augen und die in allen Menschen schlummerten, bis sie geweckt wurden. Genauso wie die Trommeln einen KlangSamen in sich trugen, der die Seele der Trommel war, die ihre Stimme erhob, wenn die Trommel geschlagen wurde. Jeder Mensch trug einen Geist in sich, der durch seinen Herzschlag zu ihm sprach, wenn er nur zuhörte. So verbarg Ofelia Osorio das Feuer der Sonne unter ihrer dunklen Maske und sah in ihrem durchdringenden Licht die doppelten Welten Havannas.
Diesmal traf Arkadi Olga Petrowna in einem Hauskleid und mit Lockenwicklern im Haar an. In diesem Aufzug ordnete sie im vorderen Zimmer ihrer Wohnung Säcke mit Nahrungsmitteln. Sie warf ihm das gequälte Lächeln einer hübschen Frau zu, einer älteren hübschen Frau, die überrascht worden war. Eine fette kleine Taube? Vielleicht.
»Ein Nebengeschäft«, sagte sie. »Ein gesundes Nebengeschäft.«
Das vormals gemütliche russische Eckchen war durch Reihen von weißen Plastiktüten verdeckt, die zum Bersten mit Dosen italienischen Kaffees, chinesischem Geschirr, Toilettenpapier, Bratöl, Seife, Handtüchern, tiefgefrorenen Hühnern und Flaschen spanischen Weins gefüllt waren. Jede Tasche war mit einem Stück Klebeband markiert, auf dem ein anderer kubanischer Name stand. »Man tut, was man kann«, sagte sie. »In den alten Tagen, als es noch eine richtige russische Gemeinde gab, war alles soviel einfacher. Die Kubaner konnten sich auf uns verlassen, wenn
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