Nacht in Havanna
englische Wort »Visitor«, Besucher, stand. Zugegeben, er war ein Besucher gewesen, der mit der Aeroflot gekommen war, aber Rufo hatte gewußt, daß er kam. Wäre es nicht wichtiger gewesen zu wissen, an welchem Wochentag? Er schlug in Pribludas spanisch-russischem Wörterbuch das spanische Wort für Freitag nach. »Viernes.« Vi. hieß Freitag. Was darauf schließen ließ, daß an einem anderen Freitag um zehn Uhr abends mit einer Person oder an einem Ort mit den Initialen HYC irgend etwas geschehen würde, was einen Bezug zu Angola hatte. War das hinreichend vage?
Arkadi wählte die Namen auf der Liste. Schon nach dem ersten Klingeln nahm jemand ab.
»Digame.«
»Hallo, ist dort Daysi?« erwiderte Arkadi auf russisch.
»Oye, quien es?«
Auf englisch. »Ist dort Daysi?«
»Si, es Daysi.«
Sprechen Sie englisch?«
» Un poco, si.«
»Sind Sie eine Freundin von Rufo?«
» Muy poco.«
»Kennen Sie Rufo Pinero?«
»Rufo, si.«
»Könnten wir uns treffen und uns unterhalten?«
»Que?«
» Reden?«
»Que?«
»Kennen Sie jemand, der englisch spricht?«
»Muy poco.«
» Danke.«
Er legte auf und versuchte es bei Susy. »Hi.«
»Hallo. Sprechen sie englisch?«
»Hi.«
»Könnten Sie mir sagen, wo ich Rufo Pinero finden kann?«
»Elcono Rufo? Es amigo suyo? Es cabrön y comemierda. Oye, hombre, singate y singa tu madre tambien.«
» Das habe ich nicht ganz mitbekommen.«
» Y singate a tu perro. Cuando veas a Rufo, preguntale, donde esta el dinero de Susy? O mi regalito de QVC?«
» Also gut, sagen wir, Sie kennen Rufo. Kennen Sie irgend jemanden, der englisch oder russisch spricht?«
» Y dile que chupe el bollo!«
Während er versuchte, chupe im Wörterbuch zu finden, legte Susy auf.
Ein Geräusch lockte ihn ins Wohnzimmer, wo er jedoch nur Chango antraf, der ihn von seinem Stuhl aus finster anblickte. Die Puppe war ein wenig in sich zusammengesunken, wirkte jedoch immer noch mürrisch und topplastig. Hatte sie ihren Kopf gewendet, seit er zum letztenmal im Zimmer gewesen war, und die Augen zu einem langen Seitenblick gehoben? Aus irgendeinem Grund mußte er an den riesigen Commandante denken, dessen Wandgemälde er in der Nacht zuvor begegnet war, daran, wie die Gestalt über den Laternen zu schweben schien wie ein allwissender, alles sehender Geist oder ein Theaterregisseur, der in den hinteren Reihen im Dunkeln saß. Arkadi kam sich sehr klein und uninformiert vor.
Er goß sein Glas noch einmal voll und ging zurück ins Arbeitszimmer und zu dem Stadtplan von Havanna über dem Schreibtisch. Als er ihn betrachtete, erkannte Arkadi das ganze Ausmaß seiner Ignoranz. Viertel, die Havana Vieja, Vedado und Miramar hießen. Das klang hübsch, aber er hätte genausogut auf Hieroglyphen starren können. Gleichzeitig war es eine Erleichterung, aus Moskau weg zu sein, wo jede Straße ihn an Irina oder ein Journalistencafe erinnerte, in das sie gern gegangen war, die Abkürzung zum Marionettentheater, die Eisbahn, auf der sie ihn überredet hatte, noch einmal Schlittschuh zu laufen. An jeder Ecke erwartete er, daß sie auftauchen würde mit ihrem energischen Gang, ihrem wie eine Fahne im Wind wehenden Haar und ihrem Schal. Er war sogar zu der Klinik zurückgekehrt, hatte seinen Weg Schritt für Schritt zurückverfolgt, wie um den einen Punkt zu finden, jenen entscheidenden Irrtum, und alles umzukehren. Doch das Gefühl von Nutzlosigkeit breitete sich aus, während die Tage heranrollten wie Wellen, ein schwarzer Kamm nach dem anderen, und der Abstand zwischen ihm und dem Augenblick, als er sie zum letztenmal gesehen hatte, nur größer wurde.
Im Grunde erinnerte ihn gerade seine Arbeit daran, daß die Zeit eine Einbahnstraße war. Ein Mord bedeutete per definitionem, daß irgend jemand zu spät gekommen war. Natürlich war es vergleichsweise leicht, ein Verbrechen aufzuklären, das bereits geschehen war. Aber ein Verbrechen vorauszuahnen, das noch nicht passiert war, die Linien zu erkennen, bevor sie sich kreuzten, erforderte möglicherweise besondere Fähigkeiten. Eine Diele knarrte, Arkadi blickte auf und sah Luna in der Tür zum Arbeitszimmer stehen. Es war nicht nur das Geräusch, dachte Arkadi, es war vielmehr so, als hätte ein komplettes Kraftfeld die Schwelle überschritten. Er erkannte Luna nicht sofort, weil der Sargento Jeans, ein Sweatshirt und eine Mütze mit der Aufschrift »Go Gators« trug. Seine Füße steckten in Air Jordans, seine muskulösen Hände spannten sich um einen langen
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