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Nacht in Havanna

Nacht in Havanna

Titel: Nacht in Havanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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vorbei an Jungen, die ihn um Kaugummi anbettelten, und Männern, die ihm Mulatinnen anboten, ohne das »Amigo, que hora es? De que pais? Momentico, amigo« zu beachten, mit dem die Leute Gespräche anzuknüpfen versuchten. Auf den Baikonen über der Straße, Arabesken aus gußeisernen Dornen und Topfpflanzen, saßen Frauen in Hauskleidern und Männer in Unterwäsche mit Zigarren. Musik wehte von Fenster zu Fenster. Überall war Verfall, überall Hitze und verblaßte Farben, die sich mühten, den bröckelnden Putz und die salzzerfressenen Balken zusammenzuhalten.
    Einen Moment lang glaubte er, einen Mann gesehen zu haben, der in der dunklen Arkade mit ihm Schritt hielt. Wurde er verfolgt? Er wußte es nicht. Es war schwer, einen einzelnen Schatten auszumachen, wenn alle außer einem selbst sich in den Straßen auskannten und heimisch aussahen, auf einer Seite das Meer, auf der anderen ein Labyrinth von Schutthaufen, an den Straßenrand geschleppte Autowracks und Schlangen von Menschen, die auf Eis, einen Bus, Brot oder Wasser warteten.
    Also stapfte er weiter in seinem Mantel und zog die Blicke auf sich wie ein Mönch auf der Via Dolorosa.
     
    6
     
    Dr. Blas spielte Rufo. Sie rückten die Tische zurecht und markierten Wände, Bücherregale und Türen des Botschaftsapartments mit Klebeband auf dem Boden des Konferenzzimmers des Institute de la Medicina Legal, damit sie den »Hergang von Rufo Pineros Tod« - zur eigenen Information - »rekonstruieren« konnten.
    Diese »Rekonstruktion der Ereignisse« unterschied die forensische Medizin in Kuba von der amerikanischen, russischen oder deutschen Methode. Blas hatte schon in kubanischen Labors, nicaraguanischen Regenwäldern und den staubigen Steppen Angolas zur Verblüffung nicht nur der Richter, sondern auch der Verbrecher selbst Morde nachgestellt. Eine Rekonstruktion der Todesumstände des russischen neumätico könnte sich wegen der Strömungen in der Bucht und dem Verfall seiner Leiche als unmöglich erweisen. Rufos Tod hingegen hatte sich nicht auf offener See, sondern in einer Wohnung abgespielt und nicht zu leugnende Indizien hinterlassen: Rufos Leiche mit einer großen Spritze in der Hand, ein Messer mit Rufos Fingerabdrücken, das in einem Bücherregal steckte, keine Blutergüsse oder sonstigen Verletzungen an der Leiche, keine zerrissenen oder zerknitterten Kleidungsstücke, keinerlei Anzeichen für etwas anderes als eine schnelle tödliche Auseinandersetzung.
    Trotzdem schien der Pathologe mit seinem Latein am Ende und atmete schwer. Sie hatten die Tatsache berücksichtigt, daß Rufo, ein ehemaliger Sportler, größer und gut zwanzig Kilo schwerer war als Renko. Der Russe war von der Reise erschöpft, verwirrt, offensichtlich kein Sportler, aber auch nicht völlig wehrlos, was, wie Blas fand, eine einigermaßen adäquate Beschreibung Renkos war. Sie inszenierten verschiedene Variationen des Angriffs, bei denen Rufo auf einem Stuhl saß, schon im Zimmer wartete oder zur Tür hereinkam. Egal, wie Blas es, Schere und Bleistift als Messer und Spritze in der Hand, auch versuchte, es gelang ihm nicht, Ofelia wirksam oder schnell zu erledigen. Das lag zum einen daran, daß sie so flink auf den Beinen war. In der Schule war sie die hundert Meter gelaufen und hatte seitdem kaum ein Kilo zugenommen. Sie hatte die Angewohnheit, ihr Gewicht ständig von einem Fuß auf den anderen zu verlagern, was Blas zusehends ärgerte. Das zweite Problem war, daß es sich augenscheinlich um einen Überraschungsangriff gehandelt hatte. Doch wenn Blas mit »Messer« und »Spritze« gleichzeitig angriff, war er langsam und ungelenk. Allein die Tatsache, daß der Mörder zwei Waffen statt einer zücken mußte, ließ dem Opfer Zeit zu reagieren. Rufo hätte ihm durch den Raum nachjagen müssen, wobei Tische und Stühle in alle Richtungen geflogen wären, wenn Ofelia das potentielle Opfer gewesen wäre.
    »Vielleicht hat er ihn spontan attackiert«, sagte Blas. »Rufo trug einen wasserdichten Trainingsanzug über seinem Hemd und seiner Hose. Daran ist rein gar nichts spontan. Er wußte, was er tun würde.«
    »So schwer zu erwischen, sieht Renko gar nicht aus.«
    »Vielleicht wurde er mit einer Waffe bedroht.«
    »Mit zwei Waffen.«
    »Nein«, entschied Ofelia, »Rufo hatte eine Waffe, das Messer. Die Spritze war die Überraschung für ihn.« Sie sprach drängend weiter, weil sie bloß eine Kommissarin und Blas ein für seine strenge Methodologie bekannter Pathologe war. Trotzdem konnte

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