Nacht in Havanna
Anmaßung zu glauben, er könnte in Pribludas Büro vor einem Stadtplan Havannas stehen und mehr als ein Stück Papier sehen.
Für Ofelia war jede auf der Karte verzeichnete Straße und Ecke eine Erinnerung. An ihren ersten Schulausflug nach Havanna zum Beispiel, wo sie auf der ehemaligen Hunderennbahn in Miramar Hürden gelaufen, abends mit Ptolomeo Duran dorthin zurückgekehrt war und ihre Jungfräulichkeit verloren hatte. Das war für sie Miramar. Oder das Kino in Chinatown, wo ihr Onkel während eines Pornofilms erstochen worden war. Oder der Eissalon Coppelia in der La Rampa, wo sie ihren ersten Mann Humberto kennengelernt hatte, als sie drei Stunden auf einen Bissen Essen gewartet hatten. Oder die El-Floridita-Bar in Habana Vieja, wo sie Humberto mit einer mexikanischen Frau erwischt hatte. Mehr als eine Ehe war daran zerbrochen, daß Touristinnen auf der Jagd nach kubanischen Männern in dieses Land kamen. Eine Scheidung war leicht zu kriegen in Kuba. Sie hatte Freundinnen, die vier- oder fünfmal geschieden waren. Was konnte ein Russe darüber schon wissen?
»Immer noch zu schnell«, keuchte Blas.
7
Havanna war im Schatten des Abends versunken, als Arkadi den Malecon erreichte. Das Meer brandete schwarz gegen die Mole, Schwalben schossen durch die Arkade. Als er die Treppe hinaufging, hörte er im Erdgeschoß das Radio seines Nachbarn und nicht direkt einen brüllenden Löwen, aber ein spürbares Vibrieren. Lichtstreifen fielen durch die Jalousien auf die Wand von Pribludas Wohnzimmer und die schwarze Puppe, die in der Ecke saß. Vielleicht lag es an dem Widerschein der tiefstehenden Sonne auf dem Wasser, aber die Wohnung wirkte minimal verändert: die Decke tiefer, der Tisch breiter, ein Stuhl verrückt. Seit seiner Kindheit hatte Arkadi die Stühle immer leicht vom Tisch weggewendet, als würden sie ein stummes Gespräch miteinander führen. Eine kindische Angewohnheit, aber so war es nun mal. Außer durch die Tür konnte man sich nur über den Balkon und einen Luftschacht in der Mitte des Flurs Zutritt zur Wohnung verschaffen. Als Arkadi die Lampe anknipste, verminderte die Stromreduzierung ihr Licht auf das von flackernden Kerzen. Er hängte seinen Mantel in den Kleiderschrank im Schlafzimmer und steckte seinen Paß in einen Schuh, bevor er seine Reisetasche öffnete. Vielleicht waren die Hemden ein wenig anders gefaltet.
Wenn jemand in der Wohnung herumgeschnüffelt hatte, hatte er das russische Vorratslager im Kühlschrank unangetastet gelassen. Arkadi goß sich ein Glas gekühltes Wasser aus einem Krug ein.
Blasses Licht fiel aus dem Kühlschrank auf die Gläser auf dem Tisch, die Schüssel der Schildkröte und die Glasaugen der Puppe. Die schwarze Farbe ließ Changös Züge seltsam lebendig erscheinen. Arkadi schob das rote Stirnband hoch, um sein Gesicht zu berühren. Es war aus Pappmache und grob modelliert; der nur angedeutete Mund schien im Begriff, etwas zu sagen, die primitive Nase sah aus, als ob sie gerade einen Atemzug tun, die Hände, als ob sie im Aufstehen den Gehstock von sich stoßen wollten. Puppen sollten weniger gegenständlich sein, dachte Arkadi, nicht ganz so lebensecht und wachsam. Schweißtropfen rannen an seiner Wirbelsäule herab. Er würde aufhören müssen, in Havanna einen Mantel zu tragen.
Der Lärm von unten erinnerte ihn daran, daß er vorgehabt hatte, den Bewohner dort in der einen oder anderen Sprache zu befragen. Laut Kommissarin Osorio war er die Person, die Pribluda die Räume im ersten Stock illegal vermietet hatte. Die Vorstellung des Illegalen fand Arkadi reizvoll. Außerdem fragte er sich, warum der Nachbar nicht beide Etagen für sich beanspruchte. Das Getöse wäre stereophoner gewesen.
Als der Lärm schließlich aufhörte, fand er es interessant festzustellen, daß es in einer mit Fensterläden verschlossenen Wohnung klingen konnte wie in einer Meeresmuschel. Das kaum hörbare Rauschen der Autos, das Plätschern des Wassers gegen die Mole, das Pochen seines Herzens. Vielleicht hatte er sich wegen der Stühle und der Tasche geirrt, dachte Arkadi. Ansonsten schien alles an seinem Platz. Der Radau von unten ging wieder los, und Arkadi nahm sein Glas mit zum Telefon in Pribludas Arbeitszimmer und studierte die Liste mit Nummern, die er von Rufos Wand abgeschrieben hatte.
Daysi 32-2007
Susy 20-4031
Vi. Aß. 2300
Kid Choc. 5/1
Vi. HYC 2200 Angola
Nach erneutem Nachdenken fragte er sich, warum er davon ausgegangen war, daß Vi. für das
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