Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht in Havanna

Nacht in Havanna

Titel: Nacht in Havanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
Vom Netzwerk:
sie förmlich vor sich sehen, wie sich der Kampf abgespielt hatte. »Sie wissen doch, daß der Russe immer diesen albernen Mantel trägt. Ich glaube, das Messer hat den Mantel ans Bücherregal genagelt. Im Revers des Mantels ist ein Riß, und an dem Messer haben wir Faserspuren gefunden. Ich glaube, in diesem Moment wurde Rufo getötet.«
    »Mit der Spritze?«
    »In Notwehr.«
    Blas ergriff Ofelias Hand, die in seiner nach Seife riechenden Pranke schmächtig aussah. »Was so wunderbar an Ihnen ist, ist Ihr Einfühlungsvermögen für die seltsamsten Menschen. Dies ist aber keine Ermittlung. Wir beide befriedigen lediglich unsere professionelle Neugier bezüglich der Indizien eines Todesfalls.«
    »Aber kommen Sie nicht trotzdem ins Grübeln?«
    »Nein.« Blas’ Miene drückte aus, daß er keineswegs ein Sexist, jedoch der Ansicht war, daß Frauen häufig den Blick fürs Wesentliche verloren. »Sie machen sich Sorgen wegen der Spritze? Also gut, wir vermissen eine in unserem Labor. Renko oder Rufo könnte sie gestohlen haben. Aber warum sollte Renko so etwas tun? Wegen Drogen? Ich habe in der Spritze keine Drogen gefunden. Als Waffe? Wenn er um sein Leben fürchtete, hätte er nicht nach Havanna kommen müssen. Wir sollten methodischer vorgehen und beispielsweise den Charakter der Beteiligten berücksichtigen. Rufo ist ein Schwarzhändler, der Gelegenheiten ergreift, wenn sie sich ihm bieten. Er hat die Spritze gesehen und genommen. Renko ist ein phlegmatischer Russe. Für ihn ist alles eine innere Debatte, das kann ich Ihnen versichern. Und dann ist da noch der Aspekt der körperlichen Kraft. Fragen Sie sich, ob Renko geglaubt hat, daß er einen so kräftigen Mann wie Rufo überwältigen könnte. Selbst in Notwehr.«
    »Vielleicht hat er nicht überlegt, sondern einfach nur reagiert.«
    »Und die Spritze hatte er bereits zur Hand? Eine Spritze, für die er keine Verwendung hatte? Eine Spritze, die wir in Rufos Hand gefunden haben?«
    Sie zog ihre Hand zurück. »Rufo hat sie sich aus dem Kopf gezogen. Das würde ich auch tun.«
    »Vielleicht? Würde? Sie spekulieren. Die Wahrheit offenbart sich eher der Logik als der Intuition.« Blas war wieder einigermaßen zu Atem gekommen. »Wir versuchen die Rekonstruktion erneut. Nur diesmal bewegen Sie sich ein wenig langsamer. Sie vergessen, daß Renko ein Raucher ist, wahrscheinlich auch ein Trinker, jedenfalls bestimmt nicht in Form. Sie hingegen sind alles andere als außer Form, jünger und wacher. Vielleicht ist Rufo ausgerutscht.
    Fertig?«
    Rufo war nicht der Typ, der ausrutschte, dachte Ofelia.
    An der Universität hatte sie eine gute Freundin namens Maria gehabt. Einige Jahre später heiratete Maria einen Dichter, der sich für die Einhaltung der Menschenrechte in Havanna einsetzte.
    Kurz darauf sah Ofelia im Fernsehen, daß er wegen Körperverletzung zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt und Maria wegen Prostitution verhaftet worden war. Als Ofelia sie im Gefängnis besuchte, erzählte Maria ihr eine andere Geschichte. Sie sagte, sie sei eines Morgens aus dem Haus gekommen, als ein Mann sie gepackt und begonnen habe, ihr vor ihrer eigenen Haustür die Kleider vom Leib zu reißen. Als ihr Ehemann hinzugeeilt war, um ihr zu helfen, schlug der Passant ihn zu Boden und trat ihm die Zähne ein. Erst in diesem Moment tauchte ein Polizeiwagen mit einem einzelnen Beamten am Steuer auf, der nur die Aussage des Mannes aufnahm, der behauptete, Maria habe ihm ein unsittliches Angebot gemacht, was er abgelehnt habe, worauf ihr Ehemann ihn angegriffen habe. Maria erinnerte sich noch an zwei weitere Details: Die Rückbank des Polizeiwagens war bereits mit einer Plastikplane bedeckt, und als der Mann, der ihren Ehemann zusammengeschlagen hatte, vorn einstieg, nahm er zwei Zigarrenhülsen aus Aluminium von dem Sitz und steckte sie in seine Hemdtasche. Sie gehörten ihm, er hatte sie zur Sicherheit beiseite gelegt. Der Dichter und Maria erhängten sich später am selben Tag in ihren jeweiligen Zellen.
    Aus reiner Neugier war Ofelia hingegangen und hatte den Bericht über die Verhaftung nachgelesen, in dem stand, daß der zufällig vor der Tür vorbeispazierende unbescholtene Bürger Rufo Pinero war.
    Rufo brauchte nicht einmal eine Waffe, geschweige denn zwei.
    Wenn die Sache mit der Spritze sie beschäftigte und Marias Tod sie erschütterte, machte der Russe sie wütend. Die Arroganz, Rufos Schlüssel zu stehlen, als wüßte er, was er im Zimmer eines Kubaners finden würde. Die

Weitere Kostenlose Bücher