Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
und zögerte.
Gehen Sie nur, sagte sie, es kommt gleich jemand.
Sie musste sich den Koffer auf den Schoß legen, weil sie den Rollstuhl mit einer Hand nicht lenken konnte. Sie nahm den Aufzug in den obersten Stock. Glücklicherweise gab es im ganzen Haus keine Schwellen. Die Stille in der Wohnung war ein Schock.
Hallo, rief Gillian, obwohl sie wusste, dass niemand da war. Hallo?
Sie hatten die Wohnung vor drei Jahren gekauft. Die Räume waren groß, hatten helle Parkettböden und Fenster, die bis zum Boden gingen. Im Wohnzimmer gab es eine Glasfront, die auf einen Balkon hinausführte. Von dort sah man über die ganze Stadt und den See. Stand man vor dem Haus, konnte man das halbe Wohnzimmer überblicken, aber das hatte Gillian nie gestört, im Gegenteil. Sie liebte die Transparenz und lachte, wenn ihre Freunde sagten, sie lebe in einem Schaufenster, in einem Aquarium.
In den meisten anderen Wohnungen lebten ältere Menschen, die die großen Fenster mit Gardinen verhängt hatten und jeden Abend die Rollläden herunterließen. Gillian kannte ihre Nachbarn kaum. Man grüßte sich, wenn man sich in der Tiefgarage oder im Treppenhaus begegnete.
Das Wohnzimmer war aufgeräumt, auf dem Esstisch stand ein Strauß verblühter Rosen. Gillian hatte die Blumen vor zwei Wochen gekauft, sie hatte sie Dagmar schenken wollen, dann aber vergessen, sie mitzunehmen. Vermutlich hatte ihre Mutter sie aus Pietät stehenlassen. Das Wasser in der Vase hatte sich verfärbt und stank, einige der Blütenblätter waren abgefallen. Gillian wischte sie mit der Hand zusammen, sie waren weich wie Samt. Einen Moment lang hielt sie sie in der Faust, dann ließ sie sie fallen.
Sie rollte in die Küche, die spiegelblank war. Das war immer die Art ihrer Mutter gewesen, ihre Liebe und ihre Fürsorge zu zeigen. Wenn Gillian sie manchmal bei der Hausarbeit beobachtet hatte, musste sie an die Stewardess denken, die die Mutter gewesen war. Jeder Handgriff schien einstudiert, sogar ihr Lächeln wirkte routiniert. Gillian hatte irgendwann aufgehört, sich ihr anzuvertrauen und hatte begonnen, sie mit derselben freundlichen Unaufmerksamkeit zu behandeln wie ihr Vater.
Der Kühlschrank war fast leer, bis auf ein paar Gläser mit Senf, getrockneten Tomaten in Olivenöl und Gewürzgurken, einige Dosen Bier und die Flasche Prosecco, die immer bereitstand für unerwartete Gäste.
Gillian versuchte, vom Rollstuhl auf die Toilette umzusteigen. Statt die Krücken im Wohnzimmer zu holen, zog sie sich am Waschbecken hoch. Dabei knickten ihre Beine weg, und sie landete auf dem Boden und stieß sich an den Fußstützen des Stuhls, der unter ihr wegrollte und mit einem lauten Knall an die Wand schlug. Sitzend zog und stemmte sie sich zur Toilette. Wäre es nach dem Arzt gegangen, hätte sie noch nicht einmal den Rollstuhl bekommen, aber sie hatte ihn darum gebeten, wenigstens für die ersten Tage. Noch auf dem Boden zog sie die Hose hinunter. Die Kälte der Fliesen verstärkte den Drang, sie versuchte sich hochzuziehen. Dann war es zu spät, sie spürte die Wärme der rasch größer werdenden Lache. Sie zog ihre Hose weg, aber der Stoff sog sich voll und verfärbte sich. Gillian wurde übel. Sie zog sich die Hose und den Slip ganz von den Beinen und wischte damit auf. Es gelangen ihr nur ein paar trockene Schluchzer, die kaum wie ein Weinen klangen.
Ihr Leben vor dem Unfall war eine einzige Inszenierung gewesen. Ihr Job, das Fernsehstudio, die schönen Kleider, die Städtereisen, die Essen in guten Restaurants, die Besuche bei ihren Eltern und bei der Mutter von Matthias. Es musste falsch gewesen sein, wenn es so leicht zu zerstören war, durch eine Unachtsamkeit, eine falsche Bewegung. Das Unglück hatte früher oder später kommen müssen, als plötzliches Ereignis oder als langsamer Verschleiß, aber es war unausweichlich.
Sie wusste, dass sie ihre Beine gebrauchen konnte, der Arzt hatte sie sogar dazu ermutigt. Sie hievte sich wieder auf den Rollstuhl und fuhr ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa lag das Buch, das sie vor zwei Wochen zu lesen angefangen hatte, ein schwedischer Kriminalroman. Sie fand die Stelle, bis zu der sie gekommen war, aber sie konnte sich nicht konzentrieren und legte das Buch bald wieder weg. Sie blätterte in einer Modezeitschrift. Im Haus gegenüber wurde ein Fenster geöffnet, die Nachbarin schüttelte eine Bettdecke aus. Gillian kannte sie nur flüchtig. Sie schreckte zurück, ihr Unterkörper war immer noch nackt, aber die Nachbarin
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