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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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wäre ich nie gekommen. Es ist wie ein Geschenk. Gillian sah sich lächeln und hörte sich fragen, ob es nicht schwierig sei, mit Frauen zu arbeiten, die keine Erfahrung als Models hätten. Sie ärgerte sich, dass sie Models gesagt hatte und nicht Modelle. Sie hielt die Aufnahme an. Jetzt sah sie aus, als würde sie sich ekeln. Sie sprang weiter, bis Hubert zu sehen war. Der Ausdruck in seinem Gesicht war schwer zu deuten, eine Mischung aus Ironie und Traurigkeit, vielleicht auch nur Herablassung. Sie schaltete wieder auf normale Geschwindigkeit, und Hubert sagte, als erwachte er aus langem Nachdenken, im Gegenteil. Professionelle Modelle haben Übung darin, sich auf ihren Körper zu reduzieren und die Nacktheit wie ein Kleid zu tragen. Es ist erstaunlich, wie manche Frauen sich durch ihre Nacktheit verändern und durch meinen Blick. Wie sich das Innere nach außen kehrt. Es ist ein sehr privater Moment. Gillian hatte das Gefühl, er richte diese Sätze direkt an sie, und nicht an das Fernsehpublikum.
    Oder es passiert gar nichts, sagte er. Ob die Fotos etwas taugen, ob ich sie gebrauchen kann, weiß ich meistens schon, bevor ich sie entwickelt habe. Und wer ist dann der Künstler, Sie oder das Modell?, hörte Gillian sich fragen. Es geht nicht um den Künstler, sagte Hubert, es geht um das Kunstwerk. Und das hat weder mit dem Modell noch mit dem Künstler etwas zu tun.
    Gillian ließ die Aufnahme rückwärts laufen bis zum Anfang und sah sich das Interview noch einmal an, Bild für Bild. Sie wollte herausbekommen, was zwischen ihnen geschehen war. Neunzig Sekunden, über zweitausend Bilder. Das geheime Leben unserer Körper, dachte sie. Hubert war ein Schwätzer, umso mehr ärgerte sie, dass er ihren Gedanken ausgesprochen hatte, dass sie den Gedanken vielleicht von ihm hatte. Sie hatte sich oft dabei ertappt, Ideen anderer zu übernehmen und dann für ihre eigenen zu halten.
    Der Dialog ihrer Gesichter war ein ganz anderer als jener, den sie eben gehört hatte. Von Anfang an schien zwischen ihnen eine Art gespannter Vertrautheit zu bestehen, oft zuckte ein kaum wahrnehmbares Lächeln über eines der Gesichter, und mindestens einmal sah Gillian in ihren Augen Bewunderung, ein jungmädchenhaftes Strahlen. Huberts anfängliche Langeweile wich allmählich einem Ausdruck von Zärtlichkeit, der Gillian irritierte. Im Gegenschnitt sah sie sich selbst für einen Sekundenbruchteil mit niedergeschlagenen Augen, als mache sein Blick sie verlegen. Sie wandte sich einer anderen Kamera zu, und ihr Gesicht nahm den etwas debilen Ausdruck großer Freude und Überraschung an, der nächste Beitrag. Gillian hielt den Film an und nahm die DVD aus dem Gerät. Im Fernsehen waren wieder die Pfeilschwanzkrebse zu sehen, die sich jetzt zurück zum Wasser bewegten. Und so legen sie jedes Jahr ihre Eier ab, sagte die warme Stimme des Sprechers, wohl noch lange, nachdem der Mensch wieder von der Erdoberfläche verschwunden sein wird.

    Gillian lag fast den ganzen Tag im Wohnzimmer. Langsam wurde sie ruhiger. Sie fühlte sich kräftiger, aber als sie sich aufrichtete, wurde ihr schwindlig. Eine Weile saß sie so und wartete, bis der Schwindel nachließ. Dann nahm sie die Krücken, die neben ihr auf dem Boden lagen, und stand auf. Es ging besser, als sie gedacht hatte, sie humpelte in die Küche und aß eine Dose Thunfisch und ein paar Reiswaffeln, die sie vor Monaten gekauft und dann nicht gemocht hatte. Dazu trank sie ein Glas Prosecco, obwohl ihr der Arzt Alkohol verboten hatte, solange sie noch Medikamente nahm.
    Sie ging ins Bad und öffnete ihre Seite des Badezimmerschranks, der vollgestopft war mit rezeptfreien Medikamenten und Pflegeprodukten. Die Frau, die hier wohnte, musste sich vor Mundgeruch fürchten, sie schluckte Vitamine, vermutlich weil sie sich oft schlecht ernährte, hatte gelegentlich Kopfschmerzen und einen übersäuerten Magen. Sie fürchtete sich vor Hautalterung und vor spröden Fingernägeln. Eine berufstätige Frau, die mehr Geld hatte als Zeit, die viel unterwegs war, die in kleinen Läden handgemachte Seifen aus Olivenöl kaufte, die sie dann nicht benutzte, die sich neue Zahnbürsten anschaffte, bevor sie die alten wegwarf. Sie musste daran denken, dass sie jetzt endlich genug Platz für ihre Sachen haben würde, nur die Trauer um Matthias wollte ihr nicht gelingen. Manchmal musste sie weinen und konnte nicht mehr aufhören. Dann wieder vergaß sie ganz einfach, dass Matthias nicht mehr da war. Sie waren immer mal

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