Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
schien sie nicht bemerkt zu haben, blieb einen Moment lang am Fenster stehen und schaute zur Straße hin. Vielleicht hielt sie Ausschau nach dem Briefträger oder nach ihren Kindern, die bald von der Schule kommen mussten.
Gillian rollte in den Flur, um den Koffer zu holen. Wieder im Wohnzimmer blockierte sie die Räder des Stuhls und ließ sich zu Boden gleiten. Sie lag auf dem dicken Wollteppich. So konnte man sie von draußen nicht sehen. Obwohl es warm war, fröstelte sie. Sie suchte im Koffer nach frischer Unterwäsche und einer Hose, aber sie fand nur schmutzige Sachen. Sie zog eine Decke vom Sofa und wickelte sich hinein. Sie sehnte sich zurück ins Krankenhaus, wo man nicht mehr von ihr verlangt hatte, als dass sie die Schmerzen ertrug. Und selbst davon hatte man sie befreit, mit Mitteln, die sie erst bereitwillig angenommen und dann immer öfter verweigert hatte. Es war ihr gewesen, als seien die Schmerzen Teil der Heilung, als müsse sie sie ertragen, um wieder ganz zu werden.
Sie stützte sich auf die Ellbogen und schaute sich um. Nichts hatte sich verändert, trotzdem war der Raum ihr fremd geworden. Sie fragte sich, wer diese Bücher gekauft, diese Bilder aufgehängt hatte. Ein Kunstdruck von Andy Warhol, Marilyn, zehnmal dasselbe Gesicht in verschiedenen Farben, so leblos wie ein Werbeplakat. Die minimalistischen Möbel, die seelenlosen Accessoires, sorgsam ausgewählt in teuren Einrichtungshäusern, Souvenirs, die an keine Erinnerungen gebunden waren. Sie drehte sich auf den Rücken und sah über sich die italienische Designerlampe. Sie streckte die Arme nach der Lampe aus, die ganz nah über ihr zu schweben schien, ließ die Arme sinken, schlug mit der Faust mehrmals gegen den Rollstuhl, der sich nicht rührte.
Sie kroch zum Fernseher, einem riesigen Flachbildschirm, und schaltete ihn ein, zappte durch die Programme. Bei einer Tiersendung blieb sie hängen. Ein breiter Strand in der Dämmerung war zu sehen, über den Tausende von urtümlichen Wesen krochen, die aussahen, als würden sie nur aus einem runden Panzer und einem langen Stachel oder Schwanz bestehen. Manchmal wurde eins der Tiere von einer Welle auf den Rücken geworfen, und man sah seine zappelnden Beinchen, und wie es sich mit ruckartigen Bewegungen des Schwanzes wieder auf den Bauch zu drehen versuchte. Nur an wenigen Tagen im Jahr ist dieses faszinierende Schauspiel zu beobachten, sagte der Sprecher mit feierlicher Stimme. Seit mehr als fünfhundert Millionen Jahren leben die Pfeilschwanzkrebse in flachen Küstengewässern überall auf der Welt. Sie sind perfekt an ihre Umwelt angepasst und haben sich in all der Zeit genetisch kaum verändert. Deshalb werden sie oft lebende Fossilien genannt. Im Frühsommer sammeln sie sich an den Küsten ihrer Heimatmeere, um an den Stränden ihre Eier abzulegen.
Gillian schaute die DVDs durch, die neben dem kleinen Fernsehmöbel aufgestapelt lagen, aber keiner der Filme interessierte sie. Schließlich legte sie die DVD einer ihrer Sendungen ein, die sie sich hatte brennen lassen und dann nie angeschaut hatte. Sie sah sich nicht gern auf dem Bildschirm, nur wenn bei den Aufnahmen etwas schiefgelaufen war, schaute sie sich die Aufzeichnung an.
Sie drückte auf schnellen Vorlauf. Das Signet der Sendung war zu sehen, eine kurze Zusammenfassung der Themen, zerrissene Gesichter, die stumm den Mund bewegten, lächelten, ein Gemälde, Balletttänzerinnen. Jetzt sah man das Studio, ein weißer Raum oder eher eine weiße Fläche, im Hintergrund Gillian, die im Weiß zu schweben schien. Die Kamera bewegte sich rasend schnell auf sie zu. Sie schaltete auf normale Geschwindigkeit und, als die Kamera ganz nah war, auf Standbild. Da war ihr altes Gesicht, der Mund zur Begrüßung geöffnet, weit aufgerissene Augen. Gillian drückte auf einen Knopf, sprang weiter von Bild zu Bild. Der Mund schloss sich und öffnete sich wieder, aber der Ausdruck in den Augen blieb derselbe.
Sie war vor den Sendungen nie nervös gewesen und war erstaunt über den ängstlichen Blick. Es war ihr, als ahne dieses Gesicht schon seine Zerstörung. Ein unerwartetes Geräusch, ein Lichtreflex, eine plötzliche Erinnerung veränderten den Ausdruck, die Kameras erschufen für den Bruchteil einer Sekunde einen Menschen, den es nie vorher gegeben hatte und nie mehr geben würde. Fünfundzwanzig Bilder in der Sekunde, fünfundzwanzig Menschen, die nicht viel mehr gemeinsam hatten als die Personalien, die Haar- und Augenfarbe, die Größe
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