Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
dabei den Rücken zu. Als sie aus der Wanne gestiegen war, umarmte und küsste er sie. Sie wand sich aus der Umarmung und nahm ein Handtuch, um sich die Haare zu trocknen.
Mit der Zeit hatte Gillian den Film fast vergessen, nur wenn sie etwas in der Schublade suchte, musste sie kurz daran denken. Sie hatte Matthias nicht gefragt, was er in ihrem Schreibtisch gesucht hatte. Vielleicht hatte er ihr nachspioniert, oder er hatte nur eine Büroklammer gebraucht oder eine Briefmarke. Sie fragte sich, ob der Laborant, der den Film entwickelt hatte, tatsächlich Abzüge für sich gemacht hatte. Aber eigentlich war ihr das egal. Die Frau auf den Bildern gab es nicht mehr.
Am nächsten Morgen, kurz nach dem Frühstück, kam eine Polizistin ins Krankenhaus. Die Beamtin war hübsch und ziemlich klein. Sie gab Gillian die Hand und stellte sich vor, Manuela Bauer von der Kantonspolizei. Sie packte einen Laptop und einen kleinen Drucker aus. Gillian sagte, sie erinnere sich an nichts, aber die Polizistin war mit der Technik beschäftigt und reagierte nicht. Endlich war sie bereit, setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und fing an zu tippen. Sie wies Gillian auf ihre Rechte hin und sagte, sie müsse keine Aussage machen, die sie oder ihren Mann belastete.
Es war ein Unfall, sagte Gillian.
Die Polizistin sagte, es handle sich um einen Fall schwerer Körperverletzung.
Wollen Sie ihn einsperren?, fragte Gillian.
Die Polizistin sagte, natürlich würden keine Straftatbestände gegen den Verstorbenen verfolgt, aber der Fall müsse trotzdem untersucht werden. Sie fragte Gillian nach dem Unfallabend, wollte wissen, bei wem sie zu Besuch gewesen seien und wer sonst noch dagewesen sei. Gillian fragte sich, ob man sie verantwortlich machen würde, wenn sie alles gestand. Sie war der einzige Mensch, der die Wahrheit kannte, und sie war nicht verpflichtet, eine Aussage zu machen. Trotzdem erzählte sie alles so, wie sie sich erinnerte.
Und worum ging es in diesem Streit?, fragte die Polizistin.
Das tut nichts zur Sache, sagte Gillian, eine Bagatelle. Jedenfalls habe ich danach ziemlich schnell ziemlich viel getrunken.
Haben Sie ihren Mann gebeten zu fahren?
Es war offensichtlich, dass ich nicht mehr in der Lage dazu war.
Sie hätten ein Taxi rufen können.
Ja, sagte Gillian, wir hätten auch da übernachten können. Wir haben es nicht getan.
Sie hatte geglaubt, sich an nichts zu erinnern, aber während sie erzählte, kam ihr vieles wieder in den Sinn: wie sie sich beim Einsteigen am Wagen festhalten musste, wie Dagmar versucht hatte, sie zum Bleiben zu bewegen. Matthias hatte gesagt, er würde Nebenstraßen nehmen, da gebe es bestimmt keine Kontrollen. Gillian wurde übel, sie kurbelte das Fenster herunter, und die kalte Nachtluft schnitt ihr ins Gesicht. Matthias fuhr schweigend. In diesem Moment konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie sich jemals wieder versöhnen würden. Nur der Gedanke daran, was eine Trennung bedeuten würde, belastete sie.
Sie musste eingedöst sein. Als sie erwachte, fuhren sie auf einer schmalen Straße durch einen Wald. Die Fahrbahn glänzte vor Nässe, zwischen den Bäumen lagen Nebelschleier. Es waren keine anderen Autos unterwegs. Im Radio lief aggressive Rockmusik. Gillian stellte einen anderen Sender ein, auf dem Jazz lief, und schloss die Augen. Matthias schaltete, ohne etwas zu sagen, wieder auf den Rocksender um. War das der Moment, in dem er die Kontrolle über das Auto verloren hatte? Die nächste Erinnerung war die Schwerelosigkeit. Und dann die gespenstische Stille.
Er hat ein Reh gerammt, sagte die Polizistin.
Es war nicht seine Schuld, sagte Gillian und musste weinen.
Er hätte nicht fahren dürfen, sagte die Polizistin, egal was Sie gesagt oder getan haben.
Es war meine Schuld, sagte Gillian, immer noch weinend.
Es tut mir leid, sagte die Polizistin mit ungeduldiger Stimme, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Strafrechtlich trifft Sie keine Schuld.
Bevor sie ging, gab sie Gillian das Merkblatt einer Opferhilfeorganisation und fragte, ob sie irgendwelche Unterstützung brauche oder psychologischen Beistand. Gillian schüttelte den Kopf.
Darum kümmern sich meine Eltern. Eine neue Nase brauche ich.
Sie versuchte zu lachen, das hechelnde Geräusch, das dabei entstand, erschreckte sie.
Der Fahrer des Taxis hatte Gillian in den Rollstuhl geholfen und sie ins Treppenhaus geschoben, dann war er noch einmal zum Wagen gegangen, um den Koffer zu holen. Er stellte ihn neben Gillian ab
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