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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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und das Gewicht. Erst in der Aneinanderreihung der Bilder entstand die Unschärfe, die einen Menschen ausmachte.
    Sie drückte auf Play und legte sich wieder auf den Rücken. Sie hörte ihre Stimme, vielversprechender junger Künstler, erste eigene Ausstellung, Rückkehr des Figürlichen. Gillian drehte den Kopf zum Fernseher und sah sich den Filmbeitrag ansagen. Um neunzig Grad gedreht sah ihr Gesicht schmaler und jünger aus. Es wirkte fremd, vielleicht sah sie deshalb viel deutlicher die einzelnen Züge, die Lippen, das Grübchen im Kinn, die Nase, die Augenpartie. Sie dachte an Tanja, die sie nie geschminkt hatte, ohne irgendeine Bemerkung über ihr Äußeres zu machen, über ihre zu breiten Augenbrauen, ihre schmalen Lippen oder ihren Teint. Ihre Problemzonen, wie sie es nannte.
    Die Frau im Fernseher schwieg, und ihr Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an für einen Moment, der Gillian unendlich lange erschien. Dann endlich begann der Filmbeitrag. Die Kamera schwenkte durch einen Ausstellungsraum, man sah lebensgroße Bilder nackter Frauen, die sich wuschen, sich an- oder auszogen oder Hausarbeiten machten. Obwohl die Posen alltäglich waren, wirkten sie fast klassisch. Dann war Huberts Gesicht in Großaufnahme zu sehen, und sein Name wurde eingeblendet, Hubert Amrhein, und in Klammern sein Alter, neununddreißig, genauso alt wie sie. Er erzählte von seiner Arbeit, sagte, er finde seine Modelle auf der Straße, Profis interessierten ihn nicht. Ganz normale Frauen, sagte er. Sie ziehen sich aus, ich fotografiere sie. Alles muss sofort geschehen, aus einem Impuls heraus, es gibt keine Verabredungen, keine zweite Chance. Die Suche nach Modellen sei ein wesentlicher Teil des künstlerischen Prozesses, sagte er. Von hundert Frauen, die er anspreche, sage vielleicht eine zu. Von zehn, die er fotografiere, male er zwei oder drei, oft erst nach Monaten, wenn er ihre Namen längst vergessen habe. Während er sprach, wurden ein paar Bilder eingeblendet. Die Fragen des Redakteurs waren herausgeschnitten worden, man hörte nur die Stimme Huberts in immer neuen Ansätzen. Es falle ihm schwer zu erklären, nach welchen Kriterien er seine Modelle auswähle, manchmal denke er, sie wählten ihn aus. Es sei nicht primär Schönheit, die ihn interessiere, er suche nach Intensität, nach Kraft und Lust, aber auch nach Verlorenheit, Angst, Aggressivität. Es sei, wie wenn man sich in eine Frau verliebe. Da könne man meist auch nicht sagen, weshalb. Sein Lächeln wirkte zugleich scheu und überheblich. Vielleicht mache das die Qualität der Bilder aus, das Begehren und die Unmöglichkeit der Erfüllung.
    Dieser aufgeblasene Idiot, dachte Gillian. Jetzt war eine Straßenszene zu sehen, Passanten, die durch eine Fußgängerzone gingen, gefilmt aus leicht erhöhter Perspektive. Die Kamera fing eine Frau ein und folgte ihr durch die Menge, eine gutaussehende junge Angestellte oder Geschäftsfrau in einem langweiligen Kostüm. Gillian versuchte, sie sich nackt vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Manchmal stelle er sich vor, sagte Hubert, wie eins seiner Modelle durch Zufall das Bild von sich sehe. Sie spaziere durch die Stadt, bleibe vor dem Schaufenster der Galerie stehen und sehe sich nackt in ihrer Wohnung beim Abwasch oder beim Staubsaugen. Ich glaube, sie würde eher die Wohnungseinrichtung als sich selbst erkennen, sagte er. Die Fotos entstehen in Sekundenbruchteilen. Sie zeigen das geheime Leben, das unsere Körper führen, während wir mit anderen Dingen beschäftigt sind.
    Das Schlussbild des Beitrags war eins von Huberts Gemälden, auf dem eine vielleicht vierzigjährige, ziemlich plumpe Frau zu sehen war, die sich im Waschbecken einen Fuß wusch. Sie stand auf einem Bein, das andere hatte sie hochgehoben. Mit einer Hand hielt sie das Bein fest, mit der anderen wusch sie sich den Fuß. Die Finger und die Zehen waren auf komplizierte Weise ineinander verflochten. Obwohl die Stellung anstrengend aussah, wirkte die Frau in sich gekehrt, fast andächtig.
    Dann sah man wieder das Fernsehstudio. Gillian und Hubert standen sich gegenüber. Sie hatte ihm ein paar von einem Redakteur vorbereitete Fragen zu stellen, die auf kleine Karten geschrieben waren. Sie fragte, wie er mit den Modellen arbeite, ob er ihnen Anweisungen gebe. Die Bewegungen müssen ihre eigenen sein, sagte Hubert, das ist gar nicht so leicht hinzukriegen. Ich sage einer Frau, sie soll sich waschen, und dann hat sie plötzlich den Fuß im Waschbecken. Darauf

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