Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
wieder ein paar Tage getrennt gewesen, das Alleinsein machte ihr keine Mühe. Gillian war ja nicht einmal bei seiner Beerdigung gewesen, woher sollte sie wissen, dass er wirklich tot war?
Sie zog Bluse und BH aus. Wenn sie an sich hinunterschaute, konnte sie sich einbilden, nichts wäre geschehen. Sie hatte vom Unfall ein paar blaue Flecken am Oberkörper und eine vernähte Wunde am Bein von der Operation, sonst war ihrem Körper nichts anzusehen. Dann hob sie den Blick und betrachtete ihr Gesicht. Im Krankenhaus hatte sie nur die Wunden gesehen. Was sie jetzt sah, über einem fast unversehrten Körper, nahm ihr alle Kraft. Ihr Magen krampfte sich zusammen und sie sank auf den Boden. Sie kroch auf allen vieren ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett. Sie ertastete ihren nackten Körper, den Bauch, die Taille, die Hüften.
Mitten in der Nacht wachte Gillian auf und konnte nicht mehr einschlafen. Sie stand auf und humpelte hinüber ins Büro. Sie schaltete den Computer ein und sah ihre Mails durch. In ihrem Posteingang waren mehr als dreihundert Nachrichten. Sie überflog die Betreffzeilen. Gute Besserung, Alles Gute, Mein Beileid. Einladungen zu Sitzungen und Tage später die Protokolle dieser Sitzungen. Sie löschte alle Mails. Das Postfach ihres zweiten Accounts, der Adresse, unter der sie mit Hubert korrespondiert hatte, war leer. Sie googelte ihren Namen. Neben ein paar kurzen Berichten über ihren Unfall fand sie Hinweise auf ihre Sendung, ihren Lebenslauf, ein paar Artikel, die über sie erschienen waren, sogar einen Eintrag in Wikipedia, den irgendein Fan von ihr verfasst haben musste und der erstaunlich genau war. Sie fragte sich, wie lange man nach seinem Tod im Netz überleben konnte. In einem Blog fand sie einen längeren Kommentar über ihre Moderationsarbeit. Der Blogger schien eine tiefe Abneigung gegen sie zu empfinden. Erst dachte sie, der Text sei von einem Mann verfasst worden, aber als sie weiterlas, merkte sie, dass er von einer Frau stammen musste. Es klang, als wäre die Schreiberin ihr schon einmal begegnet, vielleicht war sie eine Künstlerin oder eine Veranstalterin, die Gillian interviewt hatte. Wenn jemand sie in der Presse beschimpfte, wusste sie wenigstens, mit wem sie es zu tun hatte. Jetzt kam es ihr vor, als lauschte sie an der Tür eines Raums, in dem über sie gesprochen wurde. Du kannst nicht allen gefallen, hatte Matthias manchmal gesagt, wenn jemand sie kritisiert hatte, aber darum ging es nicht. Sie hatte nie gelernt, zwischen ihrer Arbeit und ihrer Person zu unterscheiden, wer ihre Arbeit kritisierte, stellte sie als Mensch in Frage. Am Schluss der Seite konnte man den Text kommentieren. Es gab ein paar Einträge, die der Bloggerin im Wesentlichen recht gaben, kurze Stellungnahmen voller Schreibfehler und unflätiger Ausdrücke. Gillian überlegte sich kurz, ob sie reagieren sollte, dann entschied sie sich dagegen. Sie schaltete den Computer aus und öffnete die oberste Schublade ihres Schreibtischs. Der Umschlag mit den Fotos lag immer noch dort, wo sie ihn verstaut hatte.
Gillian hatte Hubert erst kurz vor der Aufnahme im Studio getroffen. Er hatte während des Vorgesprächs über das Fernsehen gelästert, das die Bilder zerstöre, und sie dabei schamlos gemustert. Als sie schon im Scheinwerferlicht standen, fragte er, ob sie danach mit ihm ein Glas Wein trinken wolle, aber sie lehnte ab.
Keine Angst, sagte er mit einem spöttischen Lächeln, ich habe nicht vor, Sie zu malen. Es klang wie eine Beleidigung.
Als die Aufzeichnung der Sendung zu Ende war, war Hubert bereits gegangen, und obwohl sich Gillian über ihn geärgert hatte, war sie enttäuscht. Beim Abschminken zeigte ihr Tanja eine flüchtige Skizze, die er von ihr gemacht hatte, nichts Großartiges, aber Gillian ärgerte sich trotzdem darüber.
Matthias war nicht zu Hause, sie machte sich nur kurz ein Sandwich und ging dann in ihr Büro. Sie schaute sich Huberts Website an. Der einzige Eintrag unter News war der Hinweis auf eine Gruppenausstellung von vor zwei Jahren. Unter Who I am fand sie neben einem briefmarkengroßen Foto von Hubert eine kurze Biographie. Er hatte eine Berufslehre als Schriftenmaler gemacht und danach als Werkstudent die Kunsthochschule absolviert. Es folgte eine Aufzählung von unbedeutenden Stipendien, die er bekommen und von Gruppenausstellungen, an denen er teilgenommen hatte. Gillian klickte auf Gallery. Fünf Bilder von unbelebten Räumen waren zu sehen, ein Büro, ein Wohn- und ein
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