Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Schlafzimmer, eine Küche und ein Bad. Auf allen Bildern war es Nacht und die Räume waren nur punktuell beleuchtet. Obwohl man nicht viel erkennen konnte, hatte Gillian den Eindruck, jemand befände sich in den Räumen, in einem verborgenen Winkel oder im Rücken des Betrachters. Unter den Bildern stand, sie seien mit Farbstift auf Papier gezeichnet und fünfzehn mal einundzwanzig Zentimeter groß. Sie schienen älter zu sein als die Frauenakte. Unter Contact me fand sie eine E-Mail-Adresse.
Was sollte sie Hubert schreiben? Warum er sie nicht malen wolle? Lange starrte sie auf das leere Fenster, dann wählte sie als Absender Fräulein Julie, eine Adresse, die sie sich zugelegt hatte, um anonym mailen zu können. Jedes Mal wenn sie diese Adresse benutzte, war es ihr, als sei sie tatsächlich eine andere, als spiele sie noch einmal die Rolle des verantwortungslosen und zugleich entschlossenen Fräuleins aus Strindbergs Stück. Sie erinnerte sich an die Abschlussvorstellung an der Schauspielschule, sogar an einen Teil des Textes. Und wenn ich nun wirklich tanzen will, so will ich es mit einem, der führen kann. Es hatte viel Applaus gegeben. Danach war ihr gewesen, als könne sie es mit allen aufnehmen. Wenn sie sich jetzt die Fotos der Aufführung anschaute, sah sie ein mageres Mädchen mit blödem Gesicht und aufgerissenen Augen.
Ohne weiter nachzudenken, schrieb sie Hubert, dass sie seine Arbeit bewundere und es bedaure, dass er auf seiner Homepage keine neueren Bilder zeige. Sie zögerte kurz, dann schrieb sie: Und wie ich eben feststelle, sehen Sie auch noch gut aus. Sie unterschrieb mit Julie und drückte auf Senden.
Als sie ins Bett ging, war Matthias noch nicht zu Hause. Sie erwachte um fünf Uhr früh und sah ihn neben sich liegen. Sie dachte an Hubert und stellte sich vor, wie sie sich in seinem Atelier trafen. Sie klopfte an die Tür, er öffnete und ließ sie herein. Ohne ihren Regenmantel abzulegen, ging sie durch den Raum und schaute sich um. Das Atelier sah aus, als würde es aus einem alten Hollywoodfilm stammen, hohe Fenster, ein Kanonenofen, eine große Staffelei. Hubert betrachtete sie mit jener frechen Neugier, die ihr schon vor dem Interview aufgefallen war, und zeigte auf ein altes Ledersofa. Sie tat, als habe sie seine Geste nicht bemerkt und trat an das große Fenster, durch das die Dächer der Stadt zu sehen waren und in der Ferne der Eiffelturm. Am Himmel waren dunkle Regenwolken, doch am Horizont war die Wolkendecke aufgebrochen, und die Sonne schien durch und ließ die hellgrauen Blechdächer der Stadt in ihrem Licht erstrahlen. Gillian hörte, wie Hubert hinter sie trat. Endlich drehte sie sich um und zog ihren Regenmantel aus, unter dem sie ein schlichtes schwarzes Kleid trug. Er lächelte, nahm ihr den Mantel ab und warf ihn über einen Stuhl. Dann nahm er von einem niedrigen Tischchen einen Block und einen Kohlestift und fing an, sie zu zeichnen. Gillian schloss die Augen. Sie hörte das kratzende Geräusch der Kohle auf dem Papier.
Matthias drehte sich zur Seite. Gillian stand leise auf und ging auf den Balkon. Obwohl es kühl war, fror sie nicht. Es dämmerte, die Vögel lärmten, es klang, als befände sie sich in einem geschlossenen Raum. Aus der Ferne hörte sie den noch spärlichen Verkehr von der Autobahn und das Geräusch rangierender Züge.
Bald schrieben sich Hubert und Gillian jeden Tag. Matthias fragte, weshalb sie zehn Mal am Tag ihre E-Mails abrufe. Sie zuckte mit den Schultern. Unter ihrem Pseudonym wagte Gillian Hubert zu fragen, weshalb seine Modelle sich ausziehen müssten, wo er doch behaupte, die Körper interessierten ihn nicht. Er antwortete fast mit denselben Worten wie bei ihrem Interview, und gerade deshalb glaubte sie ihm nicht. Er schrieb von der Begegnung, die Teil des Prozesses sei, vom richtigen Moment, man könne das nicht planen. Er forderte sie auf, ihm ein Bild zu schicken. Gillian schrieb zurück, es gebe keine Fotografien von ihr.
Haben wir uns schon mal gesehen?
Gillian las seine Mail erst am nächsten Morgen. Sie musste für ein paar Tage nach Hamburg, um einen Beitrag über einen alten Schriftsteller zu machen, der eine Art Autobiographie geschrieben hatte. Ihr Flug ging erst am Mittag, und sie lag noch im Bett, als Matthias zur Arbeit ging. Er küsste sie zum Abschied.
Sie hatte schlecht geschlafen und war deprimiert, ohne zu wissen, weshalb. Noch bevor sie ihren ersten Kaffee trank, setzte sie sich an den Computer. Sie schrieb Hubert, sie
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