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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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hatte sich vor der Kamera in Pose geworfen, hatte Haltungen eingenommen, die sie aus den Illustrierten kannte. Die besten Bilder waren oft jene gewesen, auf denen sie sich kaum erkannte. Jetzt, wo sie sich nicht bewegen durfte, hatte sie keine rechte Vorstellung davon, wie Hubert sie sah.
    Du hast einen riesigen Kopf, sagte er mit teilnahmsloser Stimme. Er löste die eben gemachte Skizze vom Brett, ließ sie zu Boden gleiten und befestigte ein neues Stück Packpapier auf der Unterlage. Nach einer Dreiviertelstunde machten sie eine Pause.
    Darf ich schauen?, fragte Gillian.
    Klar, sagte Hubert und schraubte einen alten Espressokocher auseinander. Magst du Kaffee?
    Auf dem Papier waren mit Kohle die Konturen des Raumes und der Möbel zu sehen. Auch Gillians Körper war grob skizziert, aber er wirkte erstaunlich lebendig. Trotzdem war sie nicht zufrieden. Sie hatte gehofft, irgendetwas auf dem Bild zu sehen, was ihr unbekannt war.
    Ich bin gespannt, was du in mir entdecken wirst, sagte sie zu Hubert, der den Kocher gefüllt und auf die Herdplatte gestellt hatte.
    Ich sehe nichts in dir. Ich bin froh, wenn ich das Äußere einigermaßen hinkriege.
    Gillian kauerte sich auf den Boden und blätterte durch die Skizzen, die dort lagen. Hubert kam mit zwei vollen Espressotassen auf sie zu. Kurz vor ihr blieb er stehen und sagte, bleib so. Er stellte die Tassen auf den Boden, holte einen großen Zeichenblock vom Regal und begann, mit schnellen Strichen zu zeichnen. Als Gillian ihren Kaffee endlich bekam, war er kalt.
    Vielleicht ist es besser, wenn du stehst. Er trank seinen Kaffee in einem Zug, stellte die beiden Tassen ins Spülbecken und klammerte ein neues Papier auf das Brett.
    Sie probierten an diesem Morgen verschiedene Posen aus. Gillian saß auf einem Stuhl, stand hinter dem Stuhl und stützte sich auf die Lehne, sie schaute zu Hubert, aus dem Fenster, wandte ihm den Rücken zu oder die Seite. In manchen Positionen betrachtete er sie nur, ohne zu zeichnen. Manchmal machte er ein paar Fotos. Das Posieren strengte Gillian an, aber sie mochte die konzentrierte Atmosphäre, die Aufmerksamkeit, mit der Hubert sie betrachtete, und die sanften Berührungen, mit denen er sie in eine neue Stellung lenkte. Als sie gegen Mittag sagte, sie müsse los, lag ein ganzer Stapel Skizzen neben der Staffelei auf dem Boden.
    Morgen um dieselbe Zeit?, fragte Hubert. Und zieh bitte etwas anderes an.

    Als Gillian am nächsten Morgen ins Atelier trat, sah sie, dass die Skizzen vom Vortag mit Klebeband an der Wand befestigt waren. Hubert half ihr wieder aus dem Mantel. Sie trug einen kurzen, enganliegenden Rock, ein einfaches ärmelloses Oberteil und dunkle Strümpfe.
    Über Nacht hatte er sich für eine Pose entschieden. Er setzte Gillian auf einen unbequemen Stuhl mit geflochtener Sitzfläche und gerader Lehne und bat sie, die Arme zu überkreuzen. Er nahm ihre rechte Hand und platzierte sie auf ihrem linken Knie, die linke legte er auf ihren rechten Oberschenkel.
    Sitz gerade, sagte er. Wie fühlt sich das an?
    Unbequem, sagte Gillian, könnte ich ein Kissen kriegen?
    Hubert schüttelte den Kopf. Wir dürfen es dir nicht zu bequem machen, sonst kriegst du wieder diesen selbstgefälligen Ausdruck.
    Die Stellung fühlt sich verklemmt an, sagte Gillian, so würde ich mich nie hinsetzen.
    Umso besser, sagte er. Bevor er anfing, stellte er eine Eieruhr auf fünfundvierzig Minuten. Wenn sie klingelt, machen wir eine Pause, sagte er.
    Er trat noch einmal zu Gillian und zupfte ihre Kleider zurecht. Während er zeichnete, sprach er kaum, aber sein Gesichtsausdruck veränderte sich ständig, manchmal sah er ärgerlich aus, dann hellte er sich plötzlich auf. Hubert zog die Augenbrauen zusammen, wirkte für einen Moment sehr konzentriert, um sich gleich wieder zu entspannen. Gillian schaute aus dem Fenster, wo ein riesiger Geröllhaufen zu sehen war, vermutlich Schutt von einem Abbruch. Dahinter war ein bewaldeter Abhang. Der Himmel war trüb. Trotz der unbequemen Stellung fingen Gillians Gedanken zu wandern an, als würde die verkrampfte Körperhaltung Erinnerungen wachrufen. Sie musste an ihre erste Zeit an der Schauspielschule denken, die Hilflosigkeit, wenn ihr Lehrer sie kritisiert hatte. Du spielst, hatte er immer gesagt, sei du selbst, zeig dich. Nur wenn sie völlig erschöpft war, verzweifelt und dem Weinen nah, hatte der Lehrer manchmal gesagt, jetzt warst du da. Für einen Moment.
    Gillian schreckte aus ihren Gedanken auf, als Hubert

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