Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
sagte, sie solle sich bitte konzentrieren.
Was heißt das?, fragte sie. Ich dachte, ich bin nur eine Früchteschale oder ein Milchkrug für dich.
Ein Krug schaut nicht aus dem Fenster, sagte er. Du verschwimmst.
Als die Eieruhr klingelte, machten sie eine kurze Pause. Gillian ging zur Toilette, die ganz am anderen Ende des Flurs war. Sie war schmutzig, und obwohl ein Fenster geöffnet und es eiskalt war in dem kleinen Raum, stank es, dass ihr fast übel wurde. Als sie zurück ins Atelier kam, hatte Hubert das Sperrholzbrett durch eine grundierte Leinwand ersetzt und war dabei, Farben zu mischen und Pinsel zurechtzulegen. Sie ging im Raum hin und her und streckte sich.
Bist du bereit?, fragte er schließlich und zog die Uhr wieder auf.
Sie setzte sich. Er korrigierte ihre Haltung und fuhr ihr leicht über das Haar, um es zu glätten. Gillian schaute diesmal Hubert beim Malen zu. Er arbeitete jetzt mit dem Pinsel, seinen großzügigen Bewegungen nach malte er die Konturen.
Es kommt und geht, sagte er. Nach Fotos zu arbeiten ist definitiv einfacher. Dann schwieg er wieder, um nach einer Weile einen Fluch auszustoßen. Es ist unmöglich, einen dreidimensionalen Gegenstand auf eine flache Leinwand zu kriegen. Der Gegenstand wäre dann ich, sagte Gillian. Ich weiß gar nicht, warum man das macht, sagte er, als habe er sie nicht gehört. Ich schaffe es nicht, das zu malen, was ich sehe. Am besten würde man sich die Menschen einfach anschauen, statt Bilder von ihnen zu malen.
Warum tust du es dann?
Er stöhnte.
Gillian stellte sich ein Museum mit leeren Wänden vor. Menschen gingen durch die Räume, blieben voreinander stehen, traten einen Schritt zurück, sie umkreisten sich und betrachteten sich gegenseitig.
Hubert schnippte mit den Fingern. Hallo? Bist du noch da?
Am schlimmsten waren die ersten Minuten nach den Pausen. Dann dachte Gillian jedes Mal, sie würde die Haltung unmöglich eine Dreiviertelstunde lang durchhalten. Ihr Mund war trocken, und sie musste sich räuspern, irgendwo juckte es und sie hatte Lust, sich zu kratzen. Mit der Zeit gewöhnte sie sich an das Stillsitzen. Sie spürte immer noch den Schmerz in Gesäß und Rücken, aber er war Teil ihres Körpers geworden, füllte ihn aus. Sie wurde immer ruhiger, machte sich keine Gedanken mehr, wie sie auf dem Bild aussehen und wer es zu Gesicht bekommen würde. Das Bild würde unabhängig von ihr existieren, keine Abbildung, keine Kopie von ihr sein. In jedem Schnappschuss würde mehr von ihr stecken als in diesem Bild. Als die Eieruhr das nächste Mal klingelte, trat sie neben Hubert und schaute sich an, was er gemalt hatte.
Wenn du willst, sagte sie, kannst du mich nackt malen.
Seit zwei Tagen trug Gillian die Fahnen des zweiten Romans einer jungen Nachwuchshoffnung mit sich herum. Sie war mit dem Zug zu Huberts Atelier gefahren und hatte unterwegs ein Dutzend Seiten gelesen. Als sie in einer der Pausen auf ihr Handy blickte, sah sie, dass die Redakteurin ihr eine SMS geschickt hatte, in der sie fragte, ob das Buch einen Beitrag lohne und ob sie eine Idee habe. Die Literatur hatte es schwer, sich in der Sendung durchzusetzen, Schriftsteller gaben keine interessanten Bilder ab. Lasst euch etwas einfallen, sagte der Redaktionsleiter jedes Mal, ich will nie mehr einen einsamen Schriftsteller durch einen Wald gehen sehen. Gillian schrieb zurück, sie sei noch nicht so weit, aber bis morgen wisse sie mehr. Nach dem Abendessen las sie weiter in den Fahnen und überlegte, wie der Jungautor fernsehgerecht in Szene gesetzt werden könnte. Sie war froh, eine Ablenkung zu haben. Matthias kam um elf in ihr Büro und sagte, er gehe ins Bett. Um Mitternacht hatte sie ein grobes Konzept für einen Beitrag zusammen, kein Waldspaziergang, stattdessen eine Nacherzählung des Romans, illustriert mit Archivmaterial, dazu ein kurzes Interview mit dem Autor über die Schwierigkeiten des zweiten Buches und ein paar Aufnahmen von einer Lesung mit Stimmen von Leserinnen und Lesern. Das genügte, um in der Themensitzung eine Chance zu haben. Sie ging ins Bad und zog sich aus. Lange betrachtete sie sich im Spiegel. Sie drehte sich um und schaute über die Schulter.
Der Donnerstag war normalerweise nicht allzu anstrengend, aber Gillian verbrachte fast den ganzen Morgen damit, einen Beitrag fertig zu schneiden. Am Nachmittag wurde er abgenommen, und sie machte ein paar Anrufe, um das Konzept zu beenden, das sie morgen in der Sitzung vorstellen wollte. Sie hatte noch immer
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