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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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kurz, und Gillian fragte sich, ob er sie die ganze Zeit beobachtet hatte.

    Am Tag vor der zweiten Operation, einem Sonntag, besuchte Gillian ihre Eltern. Sie hatte ihre Mutter seit dem Unfall nicht gesehen. Als die Mutter die Tür aufmachte und sie sah, wandte sie sich ab und fing an zu weinen. Der Vater trat dazu und schob die Mutter mit einer unwilligen Bemerkung weg.
    Komm rein, sagte er.
    Die Mutter sagte, das Essen sei gleich fertig und verschwand in der Küche. Gillian folgte ihr.
    Die Geräusche des Bestecks auf den Tellern schienen ungewöhnlich laut, so laut, dass Gillian die Worte ihrer Eltern kaum verstand. Die zwei alten Gesichter verzogen sich beim Kauen zu hässlichen Grimassen, Gillian schaute auf ihren Teller, zerteilte ihr Essen mit der Gabel in kleine Stücke, die sie, fast ohne zu kauen, hinunterschluckte.
    Hast du keinen Hunger?
    Wie bitte?
    Du isst ja kaum etwas.
    Ich habe keinen Hunger. Gillian legte das Besteck auf den Teller und stand auf. Ich bin gleich zurück.
    Als sie die Tür hinter sich schloss, sah sie, wie der Vater sich den Teller noch einmal vollschöpfte.
    Sie saß auf der Toilette und wartete. Es war kalt im Haus, sie fröstelte. Der Vater habe die Heizung so niedrig gestellt, hatte die Mutter in der Küche geflüstert. Gillian zog die Spülung und ging zurück ins Esszimmer. Der Vater war noch nicht fertig, aber die Mutter hatte schon begonnen, den Tisch abzuräumen. Den Kaffee tranken sie auf dem Sofa. Der Vater las Zeitung, die Mutter hatte sich so neben Gillian gesetzt, dass sie sie nicht anschauen musste. Gillian betrachtete die Hände ihrer Mutter, die Kaffee einschenkte, ihr eine Tasse reichte und selbst eine nahm, welke, für die Jahreszeit zu braune Hände mit Altersflecken und einem halben Dutzend Ringen an den Fingern. Als junge Frau war die Mutter schön gewesen. Gillian fragte sich, wie sie mit dem Verlust ihrer Schönheit umging, und ob es leichter war, wenn es schleichend geschah und nicht in einem Augenblick. Sie hatte irgendwo gelesen, dass die meisten Menschen ein ganz unrealistisches Selbstbild hatten, sich dünner vorkamen, jünger und schöner, als sie eigentlich waren. Vielleicht war ihre Mutter für sich immer noch jene schöne, junge Frau auf dem Hochzeitsbild, das auf dem Buffet stand. Wenigstens war sie immer noch gepflegt, aber die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen machte den Zerfall nur noch trauriger.
    Hast du zugenommen?, fragte die Mutter.
    Gillian blieb länger, als sie vorgehabt hatte. Sie ging mit dem Vater in den Garten, und er zeigte ihr ein paar Sträucher, die er gepflanzt hatte. Später saßen sie wieder alle drei im Wohnzimmer und lasen. Gillian lag in ihrem ehemaligen Zimmer auf dem Bett. Die Mutter stand in der Küche und bereitete das Abendessen vor. Der Vater ging durch das Haus, als würde er etwas suchen. Wenn Gillian ihn manchmal in seiner Werkstatt besucht hatte, hatte sie ihn als einen anderen Menschen erlebt, einen Mann voller Energie, cholerisch, aber oft auch gut gelaunt und großzügig. Zu Hause hingegen erinnerte er sie immer an ein verwundetes Tier, das sich ein Versteck sucht.
    Und dir macht es wirklich nichts aus, dass wir nächste Woche in die Skiferien fahren?, fragte die Mutter.
    Nein, sagte Gillian, die Operation ist ja nicht gefährlich. Und mein neues Gesicht seht ihr noch früh genug.
    Warum fährst du danach nicht irgendwohin, fragte die Mutter, in die Berge oder ans Meer. Du hast doch Zeit.
    Allein?, sagte Gillian und trug die Gläser ins Wohnzimmer.
    Sie deckte den Tisch. Als sie wieder in die Küche kam, schaute die Mutter sie mit einem ängstlichen Blick an, aber Gillian sagte nichts mehr. Nach dem Abendessen sahen sie zusammen die Tagesschau.
    Ich gehe jetzt, sagte Gillian.
    Die Eltern insistierten nicht. Sie brachten sie zur Tür, die Mutter umarmte sie, der Vater gab ihr die Hand. Brecht euch kein Bein, sagte Gillian und stieg in den Wagen ein. Als sie gewendet hatte, schaute sie zurück zum Haus. Die Tür war geschlossen.
    Am Abend schaute Gillian nach ihren Mails, aber im Postfach von Fräulein Julie war keine Nachricht.

    Die SMS, die Hubert ihr geschickt hatte, nachdem er ihr seine Bilder gezeigt hatte, hatte Gillian gekränkt. Er hatte gefragt, ob sie enttäuscht sei. Sie hatte sich danach beinahe zwei Wochen lang nicht bei ihm gemeldet, und auch er wartete ab. Matthias fragte, was mit Gillian los sei, aber sie schüttelte nur den Kopf und sagte, sie habe viel zu tun, die halbe Redaktion sei in den

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