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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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zukommen. Die beiden waren vielleicht zweihundert Meter entfernt. Sie hielt an, schaute sich um. Von hinten näherte sich eine Frau mit einem Kinderwagen. Das Gebüsch am Waldrand war ziemlich dicht, und es war mühsam, hindurchzukommen. Sie hob die Arme schützend vor ihr Gesicht, Äste zerkratzten ihre Hände. Dann ging es leichter. Der Boden war dick mit feuchtem Laub bedeckt, das unter ihren Schritten nachgab. Gillian hörte Stimmen und sah durch das Unterholz, wie das Paar und die Frau mit dem Kinderwagen sich kreuzten. Sie wartete einen Moment und ging dann weiter durch den Wald. Das Licht fiel schräg ein und machte die Schatten lang. Manchmal blieb Gillian stehen und betrachtete die silbergraue Rinde eines Baumes, die wie die Haut eines Tieres wirkte, oder einen Wurzelstock, der von der Witterung ganz glatt geschliffen war. Sie legte die Hand auf das kühle Holz, spürte winzige Unebenheiten. Das Gelände war flacher geworden. Es dämmerte schon, aus dem nahen Zoo hörte sie Schreie von Tieren. Als sie zum Parkplatz kam, war es dunkel und die Straßenlaternen brannten.

    Am nächsten Morgen erwachte Gillian früh. Draußen war es noch dunkel. Sie spürte ihren Körper nicht, erst als sie sich bewegte, entstand nach und nach eine Gestalt. Sie drehte den Kopf zur Seite, spürte, dass ihre Wange den feinen Stoff des Kissenbezuges berührte, dann ein Bein, das sich unter der Bettdecke hervorschob, das zweite Bein, Taubheit, die Fußsohle, die Kälte des Bodens, leichter Schwindel. Sie ging durch die Räume, als wäre die Wohnung ihr Körper, ein großer liegender Körper, zu schwer, um sich zu erheben.
    Nach dem ersten Kaffee kam sie langsam zu sich, und als sie duschte, zog sich ihr Körper zusammen zu dem, der er war. Sie erinnerte sich vage an die Zeit, als sie noch gewachsen war. Ihr Becken wurde breiter, ihre Brüste größer. Es war ein einziges langes Einatmen gewesen, ein Sich-Aufrichten. Jetzt atmete sie aus, seit langem schon atmete sie nur noch aus, und manchmal hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu haben und trotzdem immer weiter ausatmen zu müssen.
    Alle paar Tage musste Gillian zu ihrem Hausarzt, um den Verband zu wechseln. Im Wartezimmer wichen die anderen Patienten ihren Blicken aus. Wenn der Arzt sagte, die Wunden verheilten schön, kam es ihr vor wie Hohn. Nach den Verbandswechseln fuhr sie oft mit dem Auto in der Stadt herum. Hinter dem Steuer war sie beinahe unsichtbar, nur manchmal, wenn sie an einer Ampel stand, bemerkte sie, dass der Fahrer eines anderen Wagens in der Nebenspur sie anschaute und sich schnell abwandte, wenn sie den Kopf drehte. Sie suchte leere Räume, in denen sie sich bewegen konnte, fuhr in die Industriezonen am Rand der Stadt, parkte den Wagen auf dem Platz neben dem Fußballstadion. Kein Mensch war zu sehen, nur ein paar Baumaschinen standen auf dem Kiesplatz. Um das Gelände herum war ein hoher Maschendrahtzaun, das Tor stand offen. Sie ging hinein, stieg eine breite Treppe hoch. Das Stadion war viel größer, als es von außen gewirkt hatte. Die Tribünen waren leer, Felder mit farbigen Sitzen, blauen, orangefarbenen, grünen und grauen. Eine Weile stand sie da, schaute hinunter auf das Spielfeld und versuchte sich vorzustellen, wie es hier aussah, wenn gespielt wurde und die Tribüne voller Menschen war. Ein andermal fuhr sie ins oberste Stockwerk eines Parkhauses. Am Morgen war es trocken gewesen, aber seit dem Mittag regnete es wieder. Die Wände des Parkhauses bestanden aus Betonelementen und hatten weite Lücken, durch die ein kräftiger Wind wehte. Gillian stieg aus und ging zwischen den wenigen Autos hindurch. Sie drehte sich um sich selbst, machte weite Ausfallschritte wie im Fechtunterricht an der Schauspielschule, Sprünge nach vorn und nach hinten. Sie nahm den Raum in Besitz, wie es ihnen die Sprechlehrerin beigebracht hatte, streckte die erhobene flache Hand aus, als wollte sie die Wände wegschieben. Dazu machte sie langgezogene Zischlaute. Sie war erregt, sie wusste nicht weshalb. Der Raum schien zu groß zu sein, er bot keinen Widerstand. Mit kurzen Schritten rannte sie zu einer der Öffnungen und schaute hinaus auf die Industriebauten, die dichtbefahrenen mehrspurigen Straßen, an denen gestutzte Pappeln standen, auf den Berg in der Ferne, der durch den dicht fallenden Regen nur verschwommen zu sehen war. Ihr war kalt.
    Als sie zurück zu ihrem Wagen ging, sah sie in einem der Autos einen Mann sitzen. Er saß reglos da. Ihre Blicke trafen sich

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