Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
siehst?, fragte sie und ärgerte sich sofort über ihre Frage.
Hubert gab keine Antwort. Sie hatte die Position vom Vortag eingenommen und war froh, dass ihre überkreuzten Arme sie bedeckten. Hubert ging eine Weile durch den Raum und näherte sich ihr dann ganz langsam, blieb immer wieder stehen, um sie zu betrachten. Sie versuchte, seinen Blicken zu folgen, die ihren Körper abtasteten, sein Gesicht war ernst und konzentriert.
Darf ich ein paar Fotos machen?
Gillian zögerte. Dann nickte sie.
Er legte einen Film ein, kam mit der Kamera ganz nah an sie heran. Er schien mutiger zu sein, wenn er sich hinter dem Apparat verbergen konnte. Als der ganze Film belichtet war, nahm er ihn aus der Kamera und verklebte ihn. Dann endlich begann er zu zeichnen.
Der geflochtene Sitz des Stuhls drückte unangenehm, und der Elektroofen wärmte nur eine Seite von Gillians Körper. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Sie fragte sich, was sie hier machte. Wenn Matthias das Bild sähe, würde er bestimmt ein Riesentheater machen. Natürlich würde er sie erkennen, egal, was Hubert sagte. Und er würde ihr nie glauben, dass sie nicht mit dem Maler geschlafen hatte. Er kannte ihre Vergangenheit, sie hatte nach der Schauspielschule zehn Jahre lang alles ausprobiert, wozu sie gerade Lust hatte. Manchmal hatte sie nur mit einem Mann geschlafen, weil ihr sein Lebensstil gefiel oder weil sie wissen wollte, wie es sich anfühlte, ihren Freund zu betrügen. Matthias fragte sie oft nach jener Zeit, und sie machte kein Geheimnis daraus. Jetzt gehörst du ja mir, diesen Satz hatte sie dann oft von ihm gehört, und obwohl sie die Formulierung nicht mochte, gab sie ihr eine Art von Sicherheit. Sie hatte keinen Grund, fremdzugehen. Würde sie es tun und er es erfahren, wäre alles zerstört, da war sie sich sicher. Sie konnte sich nicht erklären, was sie an Hubert anzog. Er kleidete sich nachlässig, und schien sich auch sonst nicht für sein Äußeres zu interessieren. Und seine wortkarge und oft mürrische Art ließ Gillian immer mit einer Grobheit oder Rücksichtslosigkeit rechnen. Sie hatte vor langer Zeit eine kurze Beziehung mit einem Maler gehabt, und das war eine Katastrophe gewesen. Vielleicht suchte sie die Verunsicherung, in der Hoffnung, aufgerüttelt zu werden. Sie wollte spüren, wer sie war. Das klang wie aus einem Lebenshilfebuch. Manchmal hatten Matthias und sie sich über die Tipps in den Illustrierten lustig gemacht, Techniken, um die bestehende Beziehung lebendig zu erhalten, dennoch lud er sie über die Feiertage in ein Wellness-Hotel in den Bergen ein, wo sie verwöhnt wurden mit Massagen und Bädern und gutem Essen. Dann schliefen sie miteinander, als würde es zum Programm gehören. Inzwischen befriedigte Gillian weniger der Sex mit ihm als die Tatsache, dass sie ihn hatte. Er war der Beweis dafür, dass ihre Beziehung in Ordnung war und dass alles immer so weitergehen könnte.
Die Eieruhr klingelte. Ihre Pose hatte sich allmählich wie ein schützendes Kleid angefühlt, aber als sie aufstand, empfand sie sofort wieder ihre Nacktheit. Trotzdem trat sie neben Hubert, der immer noch den Kohlestift in der Hand hielt. Er machte einen Schritt zurück, um das Bild zu betrachten, ganz so, als wollte er ihr nicht zu nahe kommen. Überhaupt war er viel distanzierter, seit sie nackt war. Sie drehte sich zu ihm um, stellte sich neben das Bild und äffte den verunsicherten Gesichtsausdruck nach, der darauf zu sehen war.
Habe ich wirklich so geschaut?
Sie versuchte ein selbstsicheres Lächeln, aber es gelang ihr nicht. Hubert ging zur Tür und nahm von einem Kleiderhaken einen dünnen Kimono und reichte ihn ihr.
Ich will nicht schuld sein, wenn du dich erkältest.
Sie betrachtete das Bild. Obwohl es erst eine grobe Skizze war, erkannte sie die Ähnlichkeit, aber sie schien ihr nicht von Bedeutung zu sein.
Bist du zufrieden?, fragte sie.
Hubert schüttelte den Kopf. Ich habe das Gefühl, von dir kommt nichts, sagte er. Das bisschen Scham am Anfang, aber danach warst du einfach weg.
Was erwartest du von mir? Ich habe das noch nie gemacht.
Präsenz, sagte Hubert, du musst hier sein, damit etwas zwischen uns passieren kann.
Gillian lachte spöttisch.
Zieh dich aus, sagte er. Stell dich hin. Beine auseinander, so dass du fest auf dem Boden stehst. Spürst du den Boden? Dein Gewicht?
Gillian musste an die Übungen im ersten Jahr der Schauspielschule denken, schon damals hatte sie nie ganz verstanden, was mit Präsenz
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