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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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nicht das ganze Buch gelesen. Es war eine skurrile Geschichte mit humorvollen Dialogen, trotzdem oder gerade deshalb langweilte es sie. Überhaupt hielt sie den größten Teil der literarischen Neuerscheinungen für überflüssig. Vielleicht lag es an ihr, dass sie immer seltener von einem Buch gefangen war. Wenn Autoren sich bei ihr beklagten, sie kämen in der Kultursendung nicht vor, war sie oft versucht zu sagen, dann schreibt halt bessere Bücher.
    Sie dachte schon daran, den Beitrag abzusagen, aber als sie beim Kaffeeautomaten ihren Chef traf, sagte er, dass er ihn haben wolle. Um drei ging sie nach Hause. Sie las noch ein wenig in den Fahnen, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Matthias hatte sie beim Frühstück erzählt, sie treffe sich am Abend mit Dagmar.
    Als sie kurz vor sechs losfuhr, fiel leichter Sprühregen, und es war kälter als am Morgen. In der Straßenbahn schaute sie sich die anderen Fahrgäste an und stellte sie sich nackt vor. Alte Frauen, Geschäftsleute, Mütter, die ihre Kinder in der Krippe abgeholt hatten, alle waren nackt. Ein junger, schick angezogener Geschäftsmann, dessen ganzer Oberkörper dicht behaart war, ein Mann mit einem so dicken Bauch, dass sein Geschlecht darunter verborgen blieb, eine Frau mit großen Brüsten, eine junge Frau mit schütterem rotem Schamhaar und einem Piercing in einer der Schamlippen. Hautfalten, Runzeln, helle und dunkle Haut, Pickel, Sommersprossen und Muttermale. Gillian musste an mittelalterliche Gemälde des Jüngsten Gerichts denken, an winzige Menschlein, die sich krümmten vor Scham und vor Schmerzen. Sie versuchte sich an den Namen des Künstlers zu erinnern, der jeweils Hunderte von Menschen dazu brachte, sich auszuziehen und sich irgendwo auf den Boden zu legen.
    Am Hauptbahnhof musste sie umsteigen. Die große Halle war voller Menschen. Gillian schlängelte sich durch, die Nähe der anderen war ihr plötzlich unangenehm. Während der Fahrt im Zug blieb sie im Vorraum des Wagens stehen.
    Als sie ankam, war es schon fast dunkel. Sie hatte keinen Regenschirm dabei, und ihr Gesicht und ihre Haare waren nass, als sie mit schnellen Schritten durch den Flur des Ateliergebäudes ging. Sie trat ein, ohne anzuklopfen. Hubert saß auf dem Sofa und las die Zeitung, neben ihm auf dem Boden stand eine Flasche Bier. Er legte die Zeitung weg und schaute sie an. Sie warf ihren Mantel neben ihm aufs Sofa. Sein Gesicht wirkte teilnahmslos. Er stand auf und küsste sie flüchtig auf die Wangen.
    Bist du bereit?
    Gillian bückte sich nach der Bierflasche, nahm einen langen Schluck und stellte sie auf den Boden zurück. Sie sah ihn an und nickte. Hubert sagte, sie könne ihre Kleider aufs Sofa legen, und ging zur Staffelei, um das Skizzenbrett zu befestigen.
    Der Boden ist nicht sehr sauber, sagte er mit dem Rücken zu ihr. Tut mir leid.
    Vor der Staffelei stand der leere Stuhl, auf dem Gillian gestern gesessen hatte, daneben ein kleiner Elektroofen.
    Sie zog ihren Pullover mit beiden Händen über den Kopf. Darunter trug sie eine ärmellose Leinenbluse. Sie öffnete die zwei obersten Knöpfe, zögerte kurz. Sie hatte Hubert die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Er stand von ihr abgewandt vor der Staffelei und beschäftigte sich mit seinen Zeichenutensilien. Trotzdem drehte sie sich um, bevor sie ihre Jeans aufknöpfte. Die Hose war ziemlich eng, Gillian musste das Becken hin- und herbewegen, um sich herauszuwinden. Sie stellte sich vor, wie lächerlich das aussehen musste. Sie zog ihre dünnen Kniestrümpfe aus, öffnete die restlichen Knöpfe ihrer Bluse. Dann bat sie Hubert um einen Kleiderbügel. Er musste sich zu ihr umdrehen, aber er fixierte ihr Gesicht.
    Leinen knittert so leicht, sagte sie lächelnd, als er ihr einen Drahtbügel reichte.
    Jetzt hatte sie das Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben. Nur noch in Unterwäsche setzte sie sich auf den Stuhl.
    Soll ich so sitzen wie gestern?
    Ich habe gedacht, sagte Hubert und sprach den Satz nicht zu Ende.
    Gillian stand wieder auf, wandte sich von ihm ab und zog schnell BH und Slip aus. Als sie nackt durch den Raum ging, bewegte sie sich anders als sonst, langsamer und viel aufrechter, ein wenig steif. Sie war sicher, dass Hubert sie jetzt taxierte. Der Gedanke, dass er schon so viele Frauen nackt gesehen und porträtiert hatte, verunsicherte sie. Sie legte ihre Unterwäsche unter die anderen Sachen auf das Sofa und setzte sich auf den Stuhl vor der Staffelei.
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