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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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Herbstferien.
    Endlich schrieb sie ihm eine Mail, in der sie ihm vorwarf, sie ausgenutzt zu haben. Nicht jede, die du in dein Atelier lockst, zieht sich gleich für dich aus.
    Hubert antwortete so schnell, als hätte er nur auf ihre Nachricht gewartet. Er war freundlich, aber aufreizend gelassen, schrieb, er habe sie nicht darum gebeten, ihm Modell zu stehen, allerdings gebe er zu, dass er mit dem Gedanken gespielt habe. Er habe sich zwar entschieden, die Reihe der Aktbilder nicht fortzusetzen und etwas Neues anzufangen, aber vielleicht wäre es interessant, einen letzten Versuch zu machen. Es wäre anders als bisher, schrieb er, immerhin bist du mir nicht völlig unbekannt, und ich würde dich nicht fotografieren wollen, sondern nach dem Leben malen. Könnte dich das interessieren?
    Und was geschieht mit dem Bild?, schrieb Gillian ohne Anrede und ohne Gruß.
    Ich schenke es dir, antwortete Hubert.
    Ich kann schwerlich ein Aktbild von mir mit nach Hause bringen, schrieb Gillian. Er schrieb: Ich habe nicht an ein Aktbild gedacht.

    Ausnahmsweise war die Sendung am Montag gedreht worden, und Gillian blieb am Dienstag zu Hause. Als sie am Morgen erwachte, stand Matthias am Fenster, in der Hand eine Tasse Kaffee.
    Nebel, sagte er, ich beneide dich.
    Kaum war er gegangen, duschte sie und zog sich an. Sie stellte sich das Bild vor, das Hubert malen würde. Er hatte sie in seiner letzten Mail gebeten, ein Kleid anzuziehen. Sie stand lange vor dem Kleiderschrank. Schließlich entschied sie sich für ein klassisches, am Nacken geknüpftes Chiffonkleid, das Matthias besonders mochte. Sie zog eine Perlenkette und einfache Perlohrringe an, die er ihr zu ihrer Verlobung geschenkt hatte. Eigentlich mochte sie den Schmuck nicht, sie kam sich alt damit vor, aber für ein Ölbild schien er ihr gerade richtig.
    Jetzt, am Tag und bei Nebel, sah die Gegend, in der Huberts Atelier lag, noch trostloser aus. Gegenüber der alten Spinnerei stand ein hässliches Bürogebäude aus den achtziger Jahren mit einer bordeauxroten Fassade aus Metallelementen. Die Straße war dicht befahren. Vor dem Eingang des Ateliergebäudes standen ein junger Mann und eine noch jüngere Frau und rauchten. Sie musterten Gillian. Der Mann stand direkt vor der Tür und machte erst Platz, als sie dicht vor ihm stehen blieb. 
    Suchst du jemanden?, fragte die junge Frau.
    Ich habe eine Verabredung, sagte Gillian, auch wenn die Formulierung nicht zu diesem Ort passte.
    Der lange Flur war von Oberlichtern nur schwach erhellt. Gillian ging bis zum Ende, klopfte an Huberts Tür und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Hubert hatte aufgeräumt, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Er hatte die Staffelei vor das Sofa gestellt und ein großes Sperrholzbrett darauf befestigt.
    Hast du den Weg gefunden?, fragte er beiläufig und half Gillian aus dem Mantel. Er musterte sie. Ein Kleid ohne Falten hätte mir die Arbeit wesentlich erleichtert. Wie lange hast du Zeit?
    Bis Mittag, sagte Gillian.
    Er sagte, sie solle sich aufs Sofa setzen, so wie es für sie bequem wäre. Kaum hatte sie sich gesetzt, sagte er, sie solle sich nicht anlehnen. Er trat zu ihr, legte ihr eine Hand ganz leicht auf die Schulter und zog ihren Oberkörper ein wenig nach vorn.
    Geht das so?
    Als sie nickte, markierte er die Position ihrer Füße mit rotem Klebeband. Dann ging er eine Weile schweigend im Raum umher und betrachtete sie aus verschiedenen Blickwinkeln. Er legte einen Film in seine Kamera und machte ein paar Fotos.
    Nur zur Sicherheit, sagte er.
    Schließlich rückte er die Staffelei ein wenig vom Sofa weg, markierte auch ihre Position mit Klebeband und befestigte mit Metallklammern ein Stück Packpapier auf dem Brett. Die Position wurde Gillian schnell unbequem.
    Kann ich die Schuhe ausziehen?
    Hubert nickte, und Gillian schlüpfte aus ihren Pumps. Nach einer Weile fror sie an den Füssen und zog die Schuhe wieder an.
    Kannst du still sitzen?, sagte Hubert. Und hör bitte auf, so zu lächeln. Aber kaum hatte sie ihren Gesichtsausdruck verändert, beklagte er sich wieder. Das ist kein Fotoshooting. Kannst du nicht einfach ein ganz normales Gesicht machen? Als wärst du allein?
    Gillian fragte, ob er denn schon am Gesicht arbeite.
    Es ist deine ganze Haltung, sagte er, ich kann dich nicht sehen, wenn du dich verstellst.
    Gillian war schon oft fotografiert worden, aber dabei war es immer nur um die Rollen gegangen, die sie spielte, erst im Theater, dann in der Öffentlichkeit. Sie

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