Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
geleistet, sagte er. Das sieht doch schon ganz passabel aus, fast wie früher.
Gillian sah nicht wie früher aus. Jetzt, wo sie ihre Züge wiedererkannte, sah sie umso mehr, wie sehr sie sich verändert hatten und dass sie nie wieder so aussehen würde wie vor dem Unfall.
Ich habe mit dem Arzt gesprochen, sagte der Vater, nach der dritten Operation wird man kaum noch etwas sehen.
In fünf Monaten, sagte Gillian. Dann ist es Sommer.
Sie hatte nach der Operation mit ihrem Chef telefoniert. Er hatte ihr angeboten, ihre redaktionelle Arbeit auszubauen, da sie im Moment nicht vor der Kamera stehen könne. Vorsichtig hatte er abgetastet, wie das mit ihrem Gesicht sei. In fünf Monaten soll man nichts mehr sehen, sagte Gillian, mit ein bisschen Schminke. Lass uns darüber reden, wenn es so weit ist, sagte der Chef. Wann kannst du wieder anfangen?
Wann fängst du wieder an zu arbeiten?, fragte der Vater.
Er hatte ihren Job nie gemocht, schon mit dem Schauspielunterricht war er nicht einverstanden gewesen. Sie hatte sich gewundert, dass er überhaupt zur Abschlussvorstellung gekommen war. Auch von ihrer Journalistenausbildung war ihr Vater nicht begeistert gewesen. Für ihn waren alle Journalisten Linke, die kein anderes Ziel hatten, als der Privatwirtschaft zu schaden. Schon während des Studiums fing Gillian an, für das Lokalfernsehen eine Lifestylesendung zu moderieren. Sie hatte ihre Sache so gut gemacht, dass man sie angerufen hatte, als beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine Moderatorin für eine neue Kultursendung gesucht wurde. Aber auch nachdem Gillian immer bekannter geworden war, hatte ihr Vater nicht aufgehört, an ihrem Beruf herumzumäkeln. Am meisten schien er sich zu ärgern, wenn ein Kunde oder ein Bekannter ihn fragte, ob er verwandt mit ihr sei, und er sich Kommentare anhören musste über ihre Sendung und ihre Kleidung und über die Berichte in der Illustrierten.
Nach dem Unfall war in der Boulevardpresse ein unscharfes Foto von ihr im Krankenhaus erschienen. Ihr Vater hatte das Zeitungsblatt aus seiner Aktenmappe gezogen und es ihr hingehalten. Er sagte, niemand könne sich erklären, wie das Bild entstanden war, vermutlich habe es jemand gemacht, der hier arbeite und es der Zeitung verkauft. Gillian war kaum zu erkennen auf dem Bild, es musste mit einem Handy aufgenommen worden sein bei schlechten Lichtverhältnissen. Unter dem Bild war eine kurze Meldung. Tragischer Unfall und so weiter. Sie mochte den Text nicht lesen. Stattdessen betrachtete sie das zweite Bild, auf dem sie und Matthias zu sehen waren, es stammte von irgendeiner Party, ihr Lächeln wirkte künstlich, und sie sah älter aus, als sie tatsächlich war.
Was soll ich damit?, fragte sie. Das könnte irgendjemand sein.
Sie reichte ihrem Vater das Blatt, und er steckte es wieder in seine Mappe. Sie erwartete, dass er sagte, das hast du nun davon, aber er meinte nur, er habe sich bei der Klinikleitung beschwert und bei der Zeitung angerufen. Er habe sogar seinen Anwalt konsultiert, aber der habe abgewunken. Sie sei eine Person öffentlichen Interesses, da wäre es schwierig, auf Persönlichkeitsrechte zu pochen. Wer sein Glück mit den Journalisten teile, dürfe sich nicht wundern, dass sie sich auch für sein Unglück interessierten.
Wann fängst du wieder an?, fragte der Vater.
Das ist vorbei, sagte Gillian. Du musst dich nicht mehr ärgern. Ich gehe nicht zurück in die Redaktion und lasse mich bemitleiden.
Sie hatte keine Lust, Texte zu schreiben für Maja, die dank ihres Unfalls die Chance bekommen hatte, vom Schreibtisch vor die Kamera zu wechseln.
Und was willst du machen?, fragte der Vater.
Sie konnte aus seinem Tonfall nicht schließen, ob er erleichtert war oder besorgt.
Ich weiß es noch nicht, sagte sie, irgendetwas wird sich schon ergeben.
Willst du für eine Weile ins Ferienhaus?, fragte er. Wir sind nur noch bis Sonntag da.
Keiner von ihnen erwähnte, dass sie und Matthias ohnehin vorgehabt hatten, die nächste Woche in den Bergen zu verbringen.
Im ersten Stock des Gebäudes war die Geburtenabteilung. Im Aufzug gab es eine Liste der in den letzten Tagen geborenen Kinder. Wenn Gillian am Kiosk in der Eingangshalle Zigaretten oder eine Zeitung kaufte, sah sie die jungen Paare mit ihren Babys herumstehen. Sie sahen verloren aus, als warteten sie darauf, dass jemand etwas Nettes über ihr Neugeborenes sagte. Unter ihrem Lächeln sah Gillian den Schrecken über das hässliche Geschöpf, das nun zu ihnen
Weitere Kostenlose Bücher