Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
Vom Netzwerk:
dem Haus standen, erzählte sie in kurzen Worten, dass ihr Mann betrunken gewesen sei, dass er ein Reh gerammt habe und beim Unfall umgekommen sei.
    Ich war ziemlich schwer verletzt. Meine Nase war mehr oder weniger weg, aber sie haben mir eine neue gemacht, die fast genauso gut ist. Es hat mehr als drei Jahre gedauert und viele Operationen gebraucht, bis sie endlich einigermaßen richtig ausgesehen hat. Komm rein. Soll ich dir das Haus zeigen?
    Sie führte ihn überall herum und sprach über die Ölheizung, die irgendwann ersetzt werden müsse und darüber, dass man das Dach ausbauen könnte, wenn mehr Platz gebraucht würde. Die Einrichtung wirkte unpersönlich, vielleicht weil viele der Möbel alt waren und nicht recht zusammenpassten, als wären sie irgendwo überflüssig und hier abgestellt worden. An den Wänden hingen ein paar alte Kalenderfotos von Engadiner Landschaften, die bestimmt nicht Jill ausgewählt hatte. Die grandiose Landschaft von draußen wiederholte sich hier drin verkleinert und vergilbt. Auf dem Tisch im Esszimmer lag eine senfgelbe Tischdecke aus dickem Stoff, darauf stand ein schmiedeeiserner Aschenbecher. Es roch nach kaltem Rauch.
    Sie saßen an einem kleinen Granittisch im Garten, mitten in einer von hohen Büschen eingerahmten Blumenwiese. Obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war, veränderte sich schon das Licht und große Schattenflächen wanderten über die Berghänge.
    Im Winter bin ich hier oft richtig eingeschneit, sagte Jill. Inzwischen habe ich mich an die Berge gewöhnt, nur die Winter sind lang.
    Wie um Himmels willen bist du in diesem Club gelandet?, fragte Hubert.
    Ich musste ja irgendetwas arbeiten, sagte Jill. Vor die Kamera konnte ich nicht mehr und zurück in die Redaktion wollte ich nicht. Eigentlich wollte ich mich hier oben nur ein wenig erholen, dann habe ich die Stellenausschreibung gesehen und mich spontan beworben. Am Anfang habe ich Jugendbetreuung gemacht. Gut ist, dass neunundneunzig Prozent der Gäste aus Deutschland kommen. Kein Mensch hat mich erkannt. Meine Chefin war die Einzige, die wusste, dass ich beim Fernsehen war. Ich habe allen, die es wissen wollten, vom Unfall erzählt, und danach hat keiner mehr gefragt. Außerdem ist die Nase ja mit jeder Operation schöner geworden. Als ich mich einigermaßen eingelebt hatte, wurde eine Stelle im Entertainment frei, und meine Chefin hat sie mir angeboten.
    Und was machst du da?, fragte Hubert.
    Wir veranstalten jeden zweiten Abend eine Show, Schlagerabende, Theater, Musicals. Ich bin auch für den Sport und die Wellness zuständig, mache die Einsatzpläne, kümmere mich um mein Team. Und ich bin ganz oft mit den Gästen zusammen, gehe mit auf Wanderungen, mache Spiele mit ihnen und stehe auf der Bühne. Für die Stücke, die wir spielen, reicht mein Talent gerade noch. Am Montagabend spielen wir Liebe zwischen Tal und Gipfel , ich lade dich ein, wenn du willst. Ich spiele die hässliche Tochter vom Inzingerwirt.
    Hubert schaute Jill mit großen Augen an. Sie hielt seinem Blick stand.
    Das Stück sei gar nicht so blöd, wie es klinge, sagte sie, jedenfalls gefalle es den Gästen. Und ihr mache es Spaß, wieder auf der Bühne zu stehen. Ich habe erst hier gemerkt, wie sehr ich den Kulturbetrieb in der Stadt satthatte.
    Sie fragte Hubert, was er denn die ganze Zeit gemacht habe. Er erzählte von seiner Professur und dass er seit Jahren kaum noch gemalt habe. Ich weiß nicht, woran es liegt, sagte er. Vielleicht habe ich auch einfach zu viel schlechte Kunst gesehen, meine inbegriffen.
    Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden, die Schatten wanderten die Hänge hoch.
    Mir ist kalt, sagte Jill, gehen wir rein?
    Hubert folgte ihr ins Haus und in die Küche. Sie machte den Kühlschrank auf und betrachtete unschlüssig den spärlichen Inhalt. Ich habe nichts Großartiges eingekauft, sagte sie. Worauf hast du Lust?
    Vielleicht muss ich mich einfach damit abfinden, dass die Leute Bilder wollen, um sie an die Wand zu hängen, sagte Hubert und schaute zu, wie Jill den Salat wusch und eine Karotte in dünne Scheiben schnitt. Das ist schließlich kein Verbrechen. Aber ich glaube, ich würde lieber auf dem Bau arbeiten oder in einem Restaurant servieren, als Gebrauchskunst zu machen.
    Bleib doch hier, sagte Jill, ich kann mal im Hotel fragen. Du könntest den Gästen Zeichenkurse geben, das käme bestimmt gut an. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, und für einen Moment glaubte er, sie meine es ernst. Sie drehte sich

Weitere Kostenlose Bücher