Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
geschützten Alpenblumen an, das er noch aus seiner Kindheit kannte und studierte die Anweisungen über das Verhalten bei Waldbrandgefahr. Daneben hing ein Organigramm des Hotels mit den Vornamen und Funktionen aller Angestellten. Über jedem Namen war ein kleines Foto, fast alle zeigten lächelnde junge Menschen in roten Poloshirts, die meisten der Frauen hatten lange Haare, viele waren blond. Ein Gesicht kannte Hubert. Jill, Chef Entertainment, stand unter dem Foto. Gillians Gesicht sah etwas anders aus als früher, aber das konnte an der Aufnahme liegen. Er schaute sich um, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden, und verließ schnell das Hotelgelände.
Er ging einen schmalen Wanderweg den Fluss entlang und dachte an seine letzte Begegnung mit Gillian und daran, wie er sie aus seinem Atelier geworfen hatte.
Nach dem Spaziergang ging er nur kurz ins Kulturzentrum, um seine Badehose zu holen. Obwohl er nicht wusste, wie er Gillian begegnen sollte, zog es ihn zurück ins Hotel. Im Pool standen ein paar Leute und ahmten Turnübungen nach, die ein junger Mann vom Beckenrand aus vormachte. Hubert ging in die Sauna, aber er hielt die Hitze nicht lange aus. Als er wieder ins Schwimmbad kam, war es voller lärmender Kinder. Er schaute ihnen eine Weile lang zu, dann ging er in die Umkleidekabine und zog sich an. Die ganze Zeit musste er an Gillian denken und formulierte im Kopf Erklärungen für das, was damals geschehen war. Als er an der Rezeption vorbeiging, drehte er kurzentschlossen um und fragte nach ihr. Die Angestellte bat ihn um seinen Namen und sprach kurz ins Telefon.
Sie kommt gleich, sagte sie.
Hubert setzte sich wieder in den alten Ledersessel in der Nische.
Fünf Minuten später stand Gillian vor ihm. Er stemmte sich mit beiden Händen hoch, und sie standen sich einen Moment lang unschlüssig gegenüber. Gillians Gesicht hatte etwas Unzusammenhängendes, sie hatte kaum wahrnehmbare Narben, wie jemand, der starke Akne gehabt hat, und ihre Nase sah anders aus als früher, wirkte plumper, als wäre sie leicht geschwollen.
Sie lächelte, küsste Hubert flüchtig auf die Wangen und fragte, ob er etwas trinken wolle.
Hast du Zeit?, fragte er.
Sie nickte und sagte, in der Zwischensaison sei nicht viel los hier. Komm, wir gehen an die frische Luft.
Sie ging vor ihm her durch die Hotelhalle. Sie trug ein rotes Poloshirt mit dem Logo des Hotels und eine enganliegende weiße Hose.
Die Terrasse lag hinter dem Hotel und grenzte an den Park. Nur einer der Tische war von zwei alten Paaren besetzt, die Bier tranken und Karten spielten. Gillian setzte sich und winkte der Bedienung. Sie bestellte einen gespritzten Weißwein, Hubert schloss sich an. Bis der Kellner die Getränke gebracht hatte, sagte keiner von ihnen ein Wort.
Gillian hob ihr Glas, lächelte und sagte, Jill, ich nenne mich Jill hier, das können die Leute besser aussprechen.
Wieder schwiegen sie.
Ich hätte allen Grund, dir böse zu sein, sagte sie dann lächelnd.
Hubert nickte und wunderte sich, wie bereitwillig er seine Schuld annahm.
Wie hast du mich gefunden? Hat Arno etwas gesagt?
Hubert sagte, es sei reiner Zufall gewesen, er habe ihr Bild am Anschlagbrett gesehen. Ich mache im Kulturzentrum wieder eine Ausstellung.
Ich weiß, sagte Jill. Aus dem Artikel in der Zeitung bin ich allerdings nicht ganz schlau geworden.
Ich auch nicht, sagte Hubert. Das ist alles furchtbar lange her, sagte er, ich kann mich kaum daran erinnern.
Eigentlich war es meine Idee, dich noch einmal einzuladen, sagte Jill, ich bin Mitglied der Programmkommission des Kulturzentrums. Meine letzte Verbindung zum Kulturbetrieb.
Warum hast du dich nicht gemeldet?, fragte er.
Jill verzog das Gesicht. Du hast mir ja damals ziemlich eindeutig zu verstehen gegeben, dass du nicht an mir interessiert bist.
Meine Frau hat mich verlassen, sagte Hubert.
Jill zeigte keinerlei Reaktion und fragte stattdessen, was er denn ausstellen wolle. Hubert zuckte mit den Schultern. Er lachte unsicher. Plötzlich stand Jill auf, trank im Stehen ihr Glas leer und sagte, sie müsse wieder an die Arbeit.
Komm doch mal zum Abendessen zu mir. Hast du am Sonntag Zeit?
Ich habe immer Zeit, sagte er.
Dann hol mich um sechs hier ab.
Sie beugte sich zu ihm hinunter, küsste ihn auf die Wangen und verschwand.
Als es an seine Tür klopfte, war Hubert noch im Bett. Ich bin es, sagte Arno, können wir reden?
Ich komme gleich ins Büro, sagte Hubert.
Er wartete, bis sich die Schritte des
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