Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
um und reichte ihm grinsend die Salatschüssel.
Jill erzählte während des ganzen Essens vom Club, von Begegnungen mit Hotelgästen, Personalproblemen und von der großen Familie, die sie alle zusammen bildeten.
Als ich hier anfing, sah ich scheußlich aus, es wundert mich heute noch, dass sie mich genommen haben. Warte.
Sie holte eine zweite Flasche Wein und ging zu einem kleinen Schreibtisch, der am Fenster stand, öffnete eine Schublade und zog eine Pappmappe heraus, die sie vor Hubert auf den Tisch legte. Sie setzte sich neben ihn und öffnete die Mappe. Er sah eine Fotografie, auf der sie ungefähr so aussah wie jetzt. Sie blätterte weiter, und von Bild zu Bild veränderte sich ihr Gesicht. Es sah aus, als zerfalle es, obwohl es immer dasselbe war. Manchmal hielt Hubert Jills Hand fest und bat sie, noch einmal zurückzugehen. Dann kam ein Bild, auf dem Jills Nase wie eine große, rote Kartoffel aussah und dann eines, auf dem das ganze Gesicht zerschnitten war und blutig. Um die Augen herum war es so stark geschwollen, dass diese fast nicht zu sehen waren und überall waren blutunterlaufene Stellen. Die Nase fehlte.
So sah ich nach dem Unfall aus, sagte Jill, die Fotos haben sie im Krankenhaus gemacht.
Hubert wandte sich ab. Es war noch nicht das letzte Bild, aber Jill ließ es lange liegen, bevor sie es umwandte. Als Nächstes kam ein Porträt von ihr, auf dem sie aussah wie damals, als Hubert sie kennengelernt hatte. In ihrem Gesicht war ein Ausdruck großer Verletzlichkeit, als ahne sie schon, was auf sie zukomme. Erst als er das nächste Foto sah, begriff er, woher diese Bilder stammten. Jill saß nackt auf einem Stuhl in seinem Atelier, die Hände in den Schoß gelegt, eine Stellung, die er Munch abgeschaut hatte. Es waren die Bilder, die er damals gemacht hatte. Sie waren besser, als er gedacht hatte. Er erinnerte sich, dass er Jill vorgeworfen hatte, sie wäre nicht präsent und verstelle sich. Er griff nach den übrigen Bildern, legte sie nebeneinander auf den Tisch und stand auf, um sie besser betrachten zu können. Einige zeigten nur Jills Oberkörper oder ihr Gesicht.
Gefallen sie dir?, fragte sie.
Hubert fiel plötzlich wieder ein, was sie ihn gefragt hatte, nachdem sie sich ausgezogen hatte: Gefällt dir, was du siehst?
Ja, sagte er. Man hätte vermutlich etwas daraus machen können.
Er breitete auch die Bilder von Jills verletztem Gesicht aus.
Sie haben mehr miteinander zu tun, als man denken könnte, sagte sie. Hätte mein Mann die Fotos von dir nicht gesehen, wäre der Unfall nie geschehen.
Sie goss Wein nach und zündete sich eine Zigarette an. Das würde dir Angst machen, nicht wahr, sagte sie, dass du mit deiner Kunst einen Menschen töten könntest.
Er schob die Fotografien, die immer noch auf dem Tisch lagen, zu zwei Stapeln zusammen, einem mit den Aktbildern, einem mit jenen des verletzten Gesichts.
Willst du, dass ich diese Bilder ausstelle?
Ich weiß es nicht, sagte Jill, du bist der Künstler.
Sie hatte eine Zigarette nach der anderen geraucht, im niedrigen Raum schwebten Rauchschwaden. Hubert wollte ein Fenster öffnen, aber als er aufstand, konnte er kaum noch gerade gehen und musste sich an Jills Stuhl festhalten. Auch sie stand auf, und der Stuhl kippte um. Sie hielten sich aneinander fest.
Komm, sagte sie. Er schaute ihr in die Augen, aber ihr Blick war stumpf. Im Schlafzimmer war es kühl, und es roch nach Holz und nach kaltem Rauch.
Als Hubert erwachte, war ihm schwindlig, aber Kopfschmerzen hatte er keine. Er war angezogen. Neben ihm lag Jill, sie schien zu schlafen. Sie trug nur ein kurzes Nachthemd aus Seide, es war ein wenig hochgerutscht. Er streichelte sie, spürte, wie sie zu sich kam, obwohl sie reglos liegenblieb. Nach einer Weile drehte sie sich um und schaute Hubert an.
Wie spät ist es?
Ohne zu antworten legte er eine Hand auf ihren Bauch und fuhr fort, sie zu streicheln. Jill lächelte. Als er die Hand zwischen ihre Beine gleiten ließ, hielt sie sie fest.
Zeichne mich.
Hubert stöhnte.
Unten auf meinem Schreibtisch liegt ein Block, sagte sie, und Stifte gibt es auch.
Er stöhnte noch einmal, stand auf und ging ins untere Stockwerk. Als er zurückkam, hatte sie sich ganz ausgezogen. Sie lag wieder auf dem Bauch, den Kopf auf den Armen.
Hubert setzte sich auf einen Stuhl und zeichnete sie. Sobald er aufhörte, änderte Jill ihre Pose, und er blätterte weiter und begann eine neue Skizze. Sie lag auf der Seite, den Oberkörper aufgestützt,
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