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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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Frauen interessiert sich Hubert Amrhein nicht mehr, schrieb Tamara, er ist reifer geworden, vielleicht auch nur älter, und mag nicht mehr auf die Jagd gehen nach nackten Körpern. Früher mussten sich die Frauen vor ihm in Acht nehmen, jetzt ist er auf der Suche nach Spiritualität. Es ist nicht auszuschließen, dass er gerade in unserer Gegend fündig wird.
    Hubert hatte keine Ahnung, wie sie darauf kam. Er brachte die Zeitung zurück ins Büro. Arno schaute ihn fragend an.
    Gefällt dir der Artikel?
    Das mit der Spiritualität ist Quatsch, sagte Hubert, keine Ahnung, woher sie das hat.
    Arno sagte, es gebe viele Kraftorte in der Gegend, die meisten Künstler interessierten sich dafür.
    Ich nicht, sagte Hubert und ging zurück in sein Zimmer.
    Am Nachmittag ging er spazieren. Er rief Tamara an und fragte, ob sie Zeit für einen Kaffee habe, sie sei in ihrem Artikel ja ziemlich leichtfertig umgegangen mit seinen Zitaten.
    Verlangen Sie eine Gegendarstellung?
    Ein Kaffee würde mich besänftigen, sagte er, außerdem habe ich ein paar Fragen.
    Also gut, sagte sie, holen Sie mich um sechs in der Redaktion ab.

    Die Kraftorte, sagte Tamara und schnaubte durch die Nase. Das ist eine komplizierte Geschichte.
    Sie aß einen Salat, und Hubert fragte sich schon, ob sie es dabei bewenden lassen wollte, da legte sie das Besteck auf ihren erst halbleeren Teller, schob ihn von sich und sagte, sie glaube nicht an dieses ganze Zeug. Aber sie werde sich hüten, in der Zeitung etwas Negatives darüber zu schreiben, es gebe viele Leute, die nur deswegen hier heraufkämen.
    Es gibt ein paar Menhire und Schalensteine aus der Bronzezeit, mag ja sein, aber die Typen, die mit Pendeln in der Gegend herumrennen und Bovis-Einheiten messen und behaupten, der Magnetismus hier sei so stark wie in der Kathedrale von Chartres sind in meinen Augen Spinner.
    Sie erzählte von einem Ethnologen, der sich als Landschaftsmythologe bezeichne und überall in der Gegend die Spuren einer Landschaftsgöttin Ana sehe. Die Hügel seien ihre Brüste, die Täler und Quellen ihr Schoß. Hubert musste an Landschaften von Georgia O’Keeffe denken, auf denen Hügel aussahen wie die Körper nackter Frauen.
    Tamara winkte der Kellnerin und bestellte die Rechnung. Sie sagte, sie müsse zu einer Gemeinderatssitzung. Hubert bestand darauf, sie einzuladen. Nachdem sie gegangen war, blieb er lange sitzen. Er holte sich die Lokalzeitung und las noch einmal den Artikel über sich und hörte den Gesprächen der Männer am Nachbartisch zu.
    Im Hotel schien wieder viel los zu sein. Hubert ging auf ein letztes Bier hinüber. An der kreisförmigen Bar im Foyer waren nur Paare und eine Gruppe junger Männer, die laut redeten und lachten. Gegenüber von Hubert stand eine Frau zwischen zwei Männern, die sich über sie hinweg unterhielten. Sie hatte helles Haar und sehr helle Haut, in dem dunklen Raum sah es aus, als wäre ein Scheinwerfer auf sie gerichtet. Sie wirkte unbeteiligt, so als wäre sie in eine Art Starre verfallen. Selbst als sich ihre Blicke kurz trafen, sah Hubert in ihren Augen keinerlei Reaktion. Er skizzierte ihr Gesicht auf der Rückseite eines Bierdeckels. Kurz dachte er daran, eine Serie von Touristenporträts auf Bierdeckeln zu machen, aber er war sich sicher, dass er die Idee sofort verwerfen würde, sobald er wieder nüchtern wäre.

    Am nächsten Morgen frühstückte Hubert im Hotel. Es war schon ziemlich spät, unter den wenigen Gästen, die noch da waren, befanden sich viele junge Paare. Hubert fragte sich, was sie hier machten, und stellte sich vor, wie es wäre, mit Nina ein paar Tage zu verbringen. Als die Angestellten schon anfingen, das Frühstücksbuffet abzuräumen, ging er zur Rezeption, erkundigte sich nach den Zimmerpreisen und fragte, ob er gegen eine Gebühr das Schwimmbad benutzen könne. Das Schwimmbad und die Wellnesszone, sagte die junge Frau an der Rezeption und nannte einen ziemlich hohen Preis. Hubert bedankte sich und schlenderte durch das Hotel. Das Gebäude wirkte ziemlich heruntergekommen und düster, obwohl überall Lampen brannten. Aus einem Fenster im zweiten Stock sah er in den Park, wo einige Kinder und eine junge Frau in einem Kreis im Gras saßen und sich einen Ball zuwarfen. Ein paar ältere Leute lagen in Liegestühlen und lasen oder schliefen, obwohl es erst kurz nach zehn war.
    Hubert ging zurück ins Erdgeschoss und las die Informationen am Aushang, das Wochenprogramm, das Tagesmenü, schaute sich ein Plakat mit

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