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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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kniete sich hin, die Hände hinter dem Rücken, stand mit verschränkten Armen am Fenster, setzte sich mit gespreizten Beinen auf einen Sessel, die Hände auf den Knien.
    Nachdem er vielleicht zwanzig Zeichnungen gemacht hatte, trat Jill zu ihm und stützte die Hände in die Hüften. Zeig, was du gemacht hast.
    Bleib so, sagte er, stand auf und setzte sich aufs Bett, um weiterzuzeichnen.
    Dreh dich um.
    Er machte noch ein paar Skizzen, bis Jill sagte, jetzt habe sie Hunger und sie brauche dringend Kaffee und eine Zigarette. Sie frühstückten draußen an der Sonne.
    Das ging doch ganz gut, sagte Jill.
    Hubert schüttelte den Kopf. Das waren nur Fingerübungen.
    Jill blätterte durch den Block, der vor ihnen auf dem Tisch lag.
    Mir gefallen die Zeichnungen.
    Natürlich kann ich ein paar Aktskizzen machen, sagte Hubert, aber das ändert nichts.
    Ich glaube, ich habe damals erwartet, aus deinen Bildern irgendetwas über mich zu erfahren, sagte Jill, aber dann habe ich gemerkt, dass du mich überhaupt nicht wahrgenommen hast. Deshalb habe ich mich ausgezogen. Die Vorstellung, dass ein Mensch etwas Abgeschlossenes ist wie ein Stuhl oder ein Tisch, ist absurd. Irgendwann habe ich mich damit abgefunden, dass es mich nicht gibt.
    Sie blätterte wieder durch die Zeichnungen.
    Das mit dem Zeichenkurs habe ich übrigens ernst gemeint. Es muss ja nicht Aktzeichnen sein. Wenn du schon hier oben bist. Du würdest auch bezahlt werden dafür, und vielleicht inspiriert es dich ja.
    Hubert drückte an seinem Handy herum.
    Hier habe ich auch keinen Empfang, sagte er.

    Die nächsten Tage verbrachte er damit, in der Gegend herumzufahren, obwohl er sich müde fühlte und unwohl. Er machte Fotos von der Landschaft, dabei wusste er schon, dass er nichts davon verwenden würde. Das Wetter war schön und warm. Manchmal parkte er den Wagen und ging ein Stück weit einen Berghang hoch, aber er kehrte immer bald wieder um. Wenn er Arno begegnete, schaute dieser ihn nur noch vorwurfsvoll an. Einmal fragte Hubert ihn, wann denn die anderen Künstler kämen. Arno zuckte mit den Schultern und sagte, es gebe Verzögerungen, er könne noch nichts Genaues sagen.
    Am Donnerstag fuhr Hubert mit dem Zug ins Tal und verbrachte das Wochenende in der Stadt, ohne sich bei Nina oder Astrid zu melden oder die Diplomausstellung zu besuchen. Arno versuchte ein paar Mal, ihn zu erreichen, aber Hubert drückte die Anrufe jedes Mal weg. Stattdessen rief er Jill an und verabredete sich mit ihr für den Sonntagabend zum Essen.
    Diesmal gingen sie in ein Restaurant im Dorf. Noch im Auto fragte Jill, wo Hubert gewesen sei, Arno habe ihn verzweifelt gesucht. Wir haben morgen Nachmittag eine Sitzung der Programmkommission. Ich glaube, er rechnet nicht mehr wirklich damit, dass du die Ausstellung zustande bringst. Es sind keine zwei Wochen mehr. Er denkt schon über einen Ersatz für dich nach. Hubert gab keine Antwort. Nach dem Essen fuhr Jill wie selbstverständlich zu sich nach Hause. Sie tranken eine Flasche Wein und redeten über die vergangenen sechs Jahre. Um Mitternacht fragte Jill, ob Hubert bei ihr übernachten wolle. Wieder schliefen sie im selben Bett.
    Als Hubert am Morgen erwachte, war Jill schon aufgestanden, und es roch nach Kaffee. Beim Frühstück sagte sie, sie müsse los, aber er brauche sich nicht zu beeilen. Er solle sich nur bitte heute Morgen noch bei Arno melden.
    Hubert hatte keine Lust, ins Kulturzentrum zu gehen und sich bedrängen zu lassen, stattdessen duschte er und wanderte dann weiter die Straße entlang, auf der sie heraufgefahren waren. Sie stieg noch ein wenig an und führte zwischen Wiesen hindurch, auf denen große Felsbrocken lagen, dann fiel sie ab, und er gelangte in einen lichten Wald. Die Luft war feucht und kühl und roch nach Harz und ganz schwach nach Rauch. Durch die Bäume hindurch fielen Sonnenstrahlen und warfen bewegte Muster auf den Waldboden. Er setzte sich auf einen dicken Baumstamm, der am Straßenrand lag und hörte den Vögeln zu. Aus der Tiefe war das Rauschen des Inns zu hören. Er musste an die Wanderungen denken, die er als Kind mit seinen Eltern gemacht hatte, an Ferienwochen in den Bergen, unendlich lange Tage, die sie damit verbrachten, in Bergbächen Staudämme zu bauen, im Wald Verstecken zu spielen, Feuer zu machen und Würste zu braten. Ein mehrmaliges Klicken war zu hören. Hubert schaute auf sein Handy und sah, dass er fünf SMS bekommen hatte. Drei waren von Arno, der schrieb, sie hätten heute

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