Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Sitzung, Hubert solle sich dringend melden. Die vierte war von Astrid, die fragte, wie es ihm gehe. Sie plane, zur Vernissage zu kommen. Nina hatte nur Belanglosigkeiten geschrieben. Hubert löschte alle Nachrichten und steckte das Handy wieder ein.
Er ging zurück zu Jills Haus, wusch das Frühstücksgeschirr ab und pflückte im Garten einen Strauß Wiesenblumen. Eine Vase fand er nicht, also nahm er ein großes Bierglas. Dann schaute er sich noch einmal im Haus um. Die Bücher in Jills Regal stammten bestimmt zum größten Teil von ihren Eltern. Überall im Haus lagen Stapel von Illustrierten und Modemagazinen herum, im Wohnzimmer stand neben dem Sofa eine Stereoanlage, daneben ein kleines Regal mit ein paar Dutzend CDs. Hubert setzte sich an Jills Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Er blätterte durch ihre alten Kalender, die er hinten in der Schublade fand. Die meisten Einträge schienen ihre Arbeit zu betreffen, daneben standen ein paar Massage- und Pediküretermine, und manchmal einfach ein Vornamen ohne Zeitangabe oder näheren Kommentar. Die meisten waren Frauennamen, und sie wiederholten sich in ziemlich regelmäßigen Abständen.
Es war erst zwei. Hubert ging wieder in den Garten. Er nahm ein Scheit von einem Stapel neben dem Eingang, setzte sich an den Granittisch und fing an, mit seinem Taschenmesser am Holz herumzuschneiden. Er schnitzte keine Figur, sondern entfernte erst die Rinde und schnitt das Scheit dann geduldig in dünne Späne. Als Kind hatte er sich oft mit solchen Betätigungen die Zeit vertrieben, hatte Faden für Faden aus einem groben Stoff gezogen, ein Seil immer weiter aufgedröselt, bis nur noch dünne Fasern übrig blieben, eine Blüte oder einen Tannenzweig in ihre Einzelteile zerlegt, Papier mit dem Bleistift immer dichter schraffiert, bis eine ebenmäßige Fläche entstand. Plötzlich sah er die Ausstellung vor sich, die er machen wollte: weiße Stelen im Raum verteilt, darauf die Überreste solcher Arbeiten, ein Häufchen Fäden, Hanffasern, Blütenblätter. Oder besser: er würde die Stelen leer lassen und das Material daneben auf den Boden legen, als wäre es weggeworfen worden, oder als hätten sich die Gegenstände von selbst in ihre Bestandteile aufgelöst. Er ging ins Haus, holte aus der Küche eine kleine Plastiktüte und steckte die Holzspäne und den letzten Rest des Scheits hinein.
Dann machte er sich auf den Weg zurück zum Kulturzentrum. Er war ziemlich sicher, dass Arno nicht begeistert sein würde von seiner Idee, aber das war ihm egal. Sie war aus der Situation entstanden, in der er sich befand, war die konsequente Fortsetzung seiner früheren Arbeiten. Während er bisher immer versucht hatte, die Zeit einzufrieren, war sie jetzt zum ersten Mal Teil des Werks. Er bezweifelte, dass irgendjemand das bemerken würde, aber die Hauptsache war, dass es ihn selbst überzeugte.
Im Kulturzentrum wollte er gleich zu Arno, um ihm die gute Nachricht zu überbringen, aber der war nicht im Büro. Vermutlich fand gerade die Sitzung statt, in der sie über seine Ausstellung diskutierten. Erst wollte er Arno anrufen, aber dann gefiel ihm die Vorstellung, dass sich die Kommission über ihn den Kopf zerbrach, während er schon die Lösung für das Problem gefunden hatte. Er würde Jill heute Abend von seinem Projekt erzählen, das war noch früh genug.
Er fuhr ins Dorf, um das Material einzukaufen, das er benötigte, einen Strick, weiche Bleistifte, einige grob gewobene rote Tischsets, die sich leicht auftrennen ließen. Dann fuhr er zurück ins Kulturzentrum und stieg auf den Dachboden. Das Dach war nicht isoliert, und es war warm in dem langen Raum und roch nach Staub und altem Gerümpel. Alle möglichen Sachen standen herum, nach einigem Suchen fand Hubert ein Dutzend weiße Stelen. Sie waren höher, als er sie sich gewünscht hatte. Er schleppte sechs davon ins Erdgeschoss und trug sie in die Küche, wo er sie mit warmem Wasser und Seife abwusch. Sie waren voller Spinnweben, und er brauchte lange, bis sie einigermaßen sauber waren. Dann stellte er sie in die Eingangshalle und probierte aus, wie er sie am besten im Raum platzieren konnte. Schließlich entschied er sich, sie in einer Reihe aufzustellen.
Jill wartete in der Hotelhalle. Sie schlug vor, im Hotel zu essen, und führte Hubert in den Speisesaal. Sie holten sich Vorspeisen vom Buffet und setzten sich an einen der großen Tische am Fenster. Während Jill durch den Saal ging, grüßte sie links und rechts die
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