Nacht-Mähre
Danach hatte er sie dazu mißbraucht, daß er sich in Xanth besser zurechtfinden konnte und alles über die verzauberten Pfade, über die unsichtbare Brücke und die xanthischen Verteidigungsanlagen erfuhr. Dadurch war sie es gewesen, die letztlich für den Verrat an Xanth, die Verzauberung der Könige verantwortlich war! Alles, was das Tagpferd ihr über die selbstsüchtigen Absichten des Reitersmanns erzählt hatte, etwa auch die Begründung, weshalb dieser sie aus dem Lager von Varsoboes hatte entkommen lassen, entsprach der Wahrheit: Schließlich hatte er es ja wissen müssen! Natürlich hatte das Wesen sie in beiden Gestalten frei herumlaufen lassen, denn sie war dem Feind viel nützlicher als alle mundanischen Spione! Vorsicht vor dem Reitersmann – das konnte man wohl sagen! Wenn sie doch nur geahnt hätte…
Doch nun wußte sie alles. Jetzt war sie der zehnte König von Xanth, und sie allein war es auch, die nun ihren gewaltigen Irrtum wiedergutmachen mußte. Sie mußte das Ungeheuer vernichten, dem sie es in ihrer Arglosigkeit so schrecklich leicht gemacht hatte, Unheil zu stiften.
Doch das war noch nicht alles. Es gab da noch etwas anderes, etwas noch viel Grundlegenderes. Was war es?
Sie durfte den Pferdmenschen nicht töten, und zwar wegen seiner Magie, deren Auswirkungen ihn wahrscheinlich überleben würden, so daß die Könige in einem schrecklichen Zustand zurückbleiben würden. Sie mußte ihn dazu bringen, sein Geheimnis preiszugeben, was wiederum bedeutete, daß sie mit ihm sprechen mußte. Das aber konnte sie wiederum nicht tun, weil…
Ja, warum nicht? Irgendwie wehrte sich ihr Geist gegen den Gedanken, als befände sie sich in feststofflicher Form am Rande der Spaltenschlucht kurz vor dem Absprung. Doch sie mußte der Wahrheit einfach ins Auge sehen, denn nun ging es um alles oder nichts. Doch was war das für eine Wahrheit?
Sie gab kleine wütende Schnauber von sich und ließ ihren Schweif wild von einer Seite zur anderen peitschen, wütete innerlich und äußerlich gegen den Zynismus des Tagpferds und seiner Manöver, ging die Sache noch einmal von vorne durch, um dem flüchtigen Gedanken auf die Spur zu kommen, von dem sie wußte, wie wichtig er war. Das Tagpferd hatte sich unschuldig gestellt, hatte sich fast feige gegeben, obwohl es in Wirklichkeit weder das eine noch das andere gewesen war. Der Hengst hatte die künftigen Könige Xanths auf sich reiten lassen oder sie anderweitig unterstützt, hatte sie gefördert, und zwar nicht aus innerer Herzensgüte heraus, sondern weil er sie als potentiell unfähige Herrscher eingeschätzt hatte, die es ihm leichter machen würden, sein Ziel zu erreichen. Als ein König nach dem anderen ihn enttäuschte, weil er eine überraschende Entschlossenheit und Fähigkeit unter Beweis stellte, hatte er die Herrscher nacheinander ausgeschaltet, um, wie er glaubte, den Thron für den jeweils nächsten, schwächeren König frei zu machen. Ironischerweise hatten sich selbst die am wenigsten verheißungsvollen unter ihnen, nämlich die Frauen, als wahre Stützpfeiler Xanths herausgestellt, bis schließlich die unscheinbarste, Chamäleon, sogar sein Geheimnis durchschaut und ihn in die Falle gelockt hatte.
Die unscheinbarste? Nein, diese zweifelhafte Ehre gebührte mit Sicherheit Imbri selbst – sie war weder menschlich noch männlich, und auch kein Magier.
Xanth war schließlich so tief gesunken, die Regentschaft einer Nachtmähre anzutragen. Einem Wesen, dessen Leben pferdischen Zyklen unterlag…
Plötzlich, als sie den finsteren Schloßgraben erblickte, durchfuhr sie die letzte, grauenhafte Erkenntnis – die Erkenntnis, die sich ihr zuvor noch entzogen hatte: Sie war rossig geworden!
Natürlich hatte ihr natürlicher Zyklus die ganze Zeit darauf zugesteuert. Als echte Nachtmähre war sie davon nicht abhängig gewesen, da sie die meiste Zeit eine nichtstoffliche Gestalt besessen hatte. Doch als sie zur Nachtmähre geworden war, hatten die feststofflichen Dinge für sie gewaltig an Bedeutung gewonnen, und die Natur hatte unerbittlich ihren Lauf genommen. Nun sagte ihr dieselbe Natur, daß es Paarungszeit war. Ihr Verstand hatte sich zwar durch die Königskrise ablenken lassen, nicht jedoch ihr Körper.
Der Gegner, mit dem sie es zu tun hatte, war auf seine Weise immerhin ein Hengst.
Sie wich dem Schloß aus, schwenkte ab. Im Augenblick konnte sie ihm unmöglich gegenübertreten! Sie durfte sich ihm nicht einmal nähern! Ihre Pferdenatur würde sie
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