Nacht-Mähre
wahre zehnte König von Xanth sein soll. Du bluffst, gute Mähre. Ich weiß zwar, daß du gegen meine magischen Kräfte immun bist und daß ich dich im Dunkeln weder reiten noch verwunden kann. Immerhin habe ich die Nachtwelt gesehen, aus der du entstammst! Dennoch wirst du mich nicht angreifen, denn wenn du es tust, werden alle eure vorhergegangenen Könige sterben. Und es wird niemandem gelingen, das Geheimnis meiner Verzauberung zu enträtseln und sie zu neutralisieren.«
»Dann kannst du sie also tatsächlich befreien, wenn du nur willst!« sendete Imbri.
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte der Pferdmensch, als spiele er ein Spiel.
»Entweder kannst du es, oder du kannst es nicht. Wenn du es nicht kannst, dann sind wir ohnehin verloren, und du hast nichts in der Hand, um einen Tauschhandel anbieten zu können. Wenn du sie aber befreien kannst, dann wirst du das besser auch tun, sonst kostet es dich nämlich dein Leben. Ich werde es nicht zulassen, daß du durch deine üblen Machenschaften den Thron von Xanth an dich reißt. Entweder wird also König Trent wieder an die Macht zurückkehren, oder ich werde an der Macht bleiben. In beiden Fällen wirst du dieses Amt nicht übernehmen. Die Frage ist nur, ob du die Könige befreien wirst, um zu leben, oder ob du es nicht tun wirst, um damit dein Leben zu verwirken.«
Der Pferdmensch klatschte in gespieltem Applaus in die Hände. »Fürwahr, welch gewaltige, allerliebste Rede, nächtliche Mähre! Doch was, wenn ich lebe und du stirbst, was, wenn man mich als letztes Glied der Kette anerkennt?«
Sie sah, daß er keinerlei Absichten hatte, nachzugeben. Er wollte nur Zeit gewinnen, bis seine mundanischen Verbündeten ihn befreit hatten. Sie mußte ihm einen Tritt verpassen. Vielleicht würde er ja aufgeben, wenn er erst einmal ordentlich Prügel bezog und eingesehen hatte, daß es ihr ernst war. Sie machte sich zum Angriff bereit.
Plötzlich schleuderte der Pferdmensch mit einer blitzartigen Handbewegung einen Zauber, der sich in einer undurchsichtigen Kugel befand. Er prallte hinter Imbri gegen die Wand und zerplatzte. Ein grelles Licht fuhr hervor und erleuchtete den Saal, bis er taghell war. Es war ein Sonnenwerfer, einer der Zauber aus der königlichen Waffenkammer. Der Pferdmensch hatte einen Teil seiner Gefangenschaft damit verbracht, das Schloß zu erkunden und seine Waffenlager zu plündern. Er war also doch alles andere als hilflos – und damit hätte sie eigentlich rechnen müssen! Imbri riß den Kopf beiseite, doch es war schon zu spät – das Licht hatte ihre empfindlichen, an Nachtsicht gewöhnten Augen bereits geblendet. Wie töricht von ihr! Sie hatte sich übertölpeln lassen!
»Was – hat dieser plötzliche Lichtblitz etwa deine empfindlichen Nachtaugen beeinträchtigt, Mähre?« fragte der Pferdmensch in gespielter Besorgnis. »Habt ihr etwa Schwierigkeiten, mich zu erkennen, König Mähre? Dem kann ich mit Vergnügen abhelfen.«
Imbri wirbelte beiseite, um ihm auszuweichen – doch da krachte sie gegen eine Wand. Die vergessene Büchse rollte ihr aus dem Maul und fiel scheppernd zu Boden. Sie konnte nichts mehr sehen – und, was noch schlimmer war, sie konnte nicht mehr entmaterialisieren, weil der Sonnenwerfer den Saal mit Tageslicht erhellte. Der heimtückische Pferdmensch hatte sie gleich doppelt außer Gefecht gesetzt. Wie raffiniert er doch seine Gegenfalle ausgelegt hatte, genau wissend, daß sie kommen würde!
»Das macht mir keine Freude«, sagte der Pferdmensch und schritt auf sie zu. »Du bist so ein schönes Tier, und ich habe eine Menge für prachtvolle Pferde übrig. Ich glaube, daß ich so etwas wohl besser beurteilen kann als jeder andere. Aber du hast dich zwischen mich und den Thron von Xanth gestellt und hast meine derzeitigen Verbündeten eine Menge Opfer gekostet. Also bleibt mir nur noch übrig, dir dafür zu gratulieren, wie du diese Frauen organisiert hast, und dich danach unschädlich zu machen…«
Imbri sprang erneut beiseite und stemmte sich dabei von der Wand ab. Ihr Sehvermögen kehrte wieder zurück, wenn auch sehr langsam. Noch sah alles ziemlich verschwommen aus.
»Mähre – er hat ein magisches Schwert!« flüsterte eine warnende Stimme in ihrem Ohr.
»Wer bist du?« fragte Imbri den Unbekannten.
»Ich bin Jordan das Gespenst«, erwiderte die Stimme flüsternd. »Wir Gespenster haben alles mit angesehen, und man hat mir sofort Bescheid gegeben, als du ins Schloß eingedrungen bist. Ich weiß,
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