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Nacht-Mähre

Titel: Nacht-Mähre Kostenlos Bücher Online Lesen
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schnell für sie. Er war im Begriff sie zu besteigen und ihr seine schrecklichen Sporen zu geben.
    Sie sprang zur Seite, rammte dabei die Wand und versuchte, ihn gegen die Wand zu drücken, zu zermalmen und zu betäuben. Wieder war er schneller: Er verstand wirklich etwas von Pferden!
    Er rollte sich über ihren Rücken ab und kam auf der anderen Seite wieder geschmeidig auf die Beine.
    Imbri wirbelte erneut herum und trat mit den Hinterhufen nach ihm. Dieser Doppeltritt hätte ihm sämtliche Knochen aus dem Leib gestampft, wenn er sein Ziel nicht verfehlt hätte. Doch der Pferdmensch hatte sich seitlich zu Boden fallen lassen, da er ihren Angriff mit unheimlicher Präzision vorhergesehen hatte.
    Doch Imbri war eine Nachtmähre, die ein Jahrhundert mehr Erfahrung in diesen Dingen hatte, als er in seinem ganzen Leben hatte sammeln können. Sie tänzelte, auf ihren Hinterbeinen stehend, herum und sprang ihn erneut an. Jetzt hatte sie ihn: Er konnte den hellen Thronsaal nicht mehr verlassen, weil sie dann gänzlich im Vorteil wäre. Auf diesem engen Raum aber würde sie ihn binnen weniger Augenblicke mit Hufen, Zähnen oder mit ihrem ganzen Körpergewicht erledigen.
    Der Pferdmensch kroch ihr hastig aus dem Weg. Ja, sie hatte ihn mit ihrer Schnelligkeit und ihrer Wildheit völlig überrascht. Er hatte sie ebenso falsch eingeschätzt, wie sie es mit dem Tagpferd getan hatte, hatte sich vom äußeren Schein trügen lassen. Er war zahme mundanische Pferde gewöhnt, die ihre Reiter ertrugen, weil sie es nicht besser wußten. Nun kroch er auf Händen und Knien in Sicherheit, während sie bereits den Todesstoß vorbereitete. Auf diese Weise war er zu langsam, und sie wußte, daß sie ihn ausmanövriert hatte.
    Da verwandelte er sich in seine andere Gestalt. Plötzlich stand das Tagpferd vor ihr, groß und mächtig, weiß und schön – und männlich. Irgendwo, in einer geheimen Ecke ihres Verstandes, hatte sie doch daran gezweifelt, daß ihr Pferdefreund und ihr Menschenfeind wirklich ein und dieselbe Person sein konnten – doch dieser Zweifel war nun endgültig widerlegt worden.
    Imbri zögerte. Die Männlichkeit dieser prachtvollen Kreatur traf sie wie ein körperlicher Schlag. Sie war rossig, war bereit zur Paarung, und dies war der einzige Hengst, den sie kannte. Wenn sie ihn vernichtete, bekam sie vielleicht niemals wieder die Gelegenheit, sich zu paaren und fortzupflanzen.
    Er war der Feind, das wußte sie genau. Hätte sie wirklich noch daran zweifeln können, so hätte der Messingreif an seinem linken Vorderbein, direkt an der Fessel, sie eines besseren belehrt. Sie hatte geglaubt, daß dieser Reif ein Zeichen seiner Knechtschaft sei, doch nun wurde ihr klar, daß er viel mehr war als nur dieses. Die Gestalt des Wesens hatte sich verwandelt, der unbelebte Reif jedoch nicht. Wie bereit war sie doch gewesen, wie willig, alles zu glauben, was er ihr erzählt hatte! Sie war ihm mehr als nur die Hälfte des Weges entgegengekommen, um sich betören zu lassen, sich selbst zu täuschen, unfähig, zu glauben, daß ein Pferd auch böse sein konnte.
    Nun wußte sie um sein wahres Wesen – und doch protestierte ihr ganzes Inneres dagegen, ihm mit Gewalt zu begegnen. Keine Mähre wehrte sich gegen einen Hengst – nicht, wenn sie rossig war. Das hätte ihrer Natur widersprochen, so wie Menschenmänner von Natur aus keine wunderschönen Frauen schlagen konnten. So etwas tat man einfach nicht. Das war keine Entscheidung des Intellekts allein, sondern eine physiologische Sache, eine Frage der Körperchemie. Pferden war es nun einmal nicht gestattet, ihrem Intellekt zu erlauben, die Fortpflanzung der Art zu verhindern. Früher war ihr das stets als großer Vorteil erschienen. Doch ob es nun ein Vorteil sein mochte oder eine Katastrophe – es war und blieb jedenfalls so.
    Das Tagpferd drehte sich zu ihr herum, den prachtvollen Schädel stolz emporgereckt. Der Hengst schnaubte herrisch. Er war sich der Gewalt bewußt, die er über sie besaß. Es spielte keine Rolle, daß beide wußten, daß er ihr Feind war, ihr tödlicher Rivale um die Krone Xanths, oder daß er nur um Zeit spielte, um die eindringenden Mundanier abzuwarten. Der Reitersmann hatte sie so lange aufgehalten, wie er nur konnte, hatte ihre kostbare Zeit verbraucht, und nun erledigte das Tagpferd den Rest. Die Natur lähmte sie und machte sie so machtlos, als wäre sie plötzlich mit Blindheit geschlagen worden.
    »Imbri! Laß dich nicht von ihm betören!« rief Jordan

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