Nacht-Mähre
Seele«, meinte Chem. »Ich weiß nicht, warum Seelen nur Menschen und teilmenschlichen Wesen vorbehalten sind. Manche Drachen sind mehr wert als die meisten Mundianer.« Ihr Blick huschte zu Imbris Reiter hinüber. »Und sogar manche Oger sind nette Leute.«
»Ha, das habe ich mitgekriegt!« rief Grundy. »Sie reden über dich, Krach, und zwar in Träumen.«
»Warum auch nicht?« fragte Krach. »Es sind doch meine Freunde.«
»Och, du denkst ja nicht einmal mehr wie ein Oger! Du bist ein Spielverderber«, klagte der Golem. Die anderen lachten.
»Und außerdem gibt es vielleicht einen besonderen Grund dafür, daß du eine Seelenhälfte bekommen hast«, fuhr Chem still in Imbris Privattraum fort. »Oft stellt sich ja heraus, daß solche Dinge mehr bedeuten, als es zunächst erscheinen mag. Vielleicht wird meine Halbseele dir eines Tages einen ebensogroßen Dienst erweisen, wie es deine Hilfe für mich einmal getan hat. Natürlich wird sie dich nicht aus dem Nichts befreien, aber…«
Da erspähten sie eine Harpyie, die auf dem Ast eines Pfefferbaums hockte. Die marschierenden Truppen hatten einen großzügigen Bogen um den Baum gemacht, um nicht eine Niesorgie zu provozieren. Die Harpyie jedoch schien immun zu sein, vielleicht weil sie ohnehin bereits von Schmutz übersät war. »He, Vogelhirn!« rief Grundy in seiner bekannt gewinnenden Art. »Wie wär’s, wenn du für uns mal ein bißchen Lufterkundung durchführen würdest?«
»Für euch?« kreischte die Harpyie empört. Sie besaß den Kopf und die Brüste einer Frau sowie Flügel und Körper eines Bussards. Dieses Exemplar war noch einigermaßen jung; wenn sie nicht so schrecklich verdreckt gewesen wäre, hätte sie ganz erträglich ausgesehen. »Warum sollte ich für euch und euresgleichen wohl etwas tun?« Und dann ließ sie eine Schimpfkanonade von Beleidigungen los, daß selbst der Oger rote Ohren davon bekam. Für dergleichen waren Harpyien berühmt.
»Für das Wohlergehen Xanths, du Faulschlund«, erwiderte Grundy, der sich als erster von dem Wortschwall erholte. Tatsächlich hatte es den Anschein, als merke er sich einige der Ausdrücke für den späteren Gebrauch, obwohl das wohl ein recht gefährliches Unterfangen werden konnte.
»Das Wohlergehen Xanths kann mich mal…« schimpfte die Harpyie. »Das bedeutet mir nicht… viel!«
Nun wurde sogar der Pfeffer rot.
»Nach der Schlacht gibt’s eine Menge Aas«, meinte Grundy. »Schleimige, zerlaufende Leichen, die in der heißen Sonne dampfen und stinken, sich aufblähen und platzen, ihre Eingeweide umherspritzen…«
Die Augen der Harpyie begannen übelwollend zu glitzern. »Schmatz!« machte sie. »Da krieg’ ich ja schon einen Riesenhunger, nur bei dem bloßen Gedanken daran!«
»Das hab’ ich mir gedacht«, meinte Grundy selbstzufrieden. Merkwürdigerweise sah sonst niemand besonders hungrig aus. »Du brauchst nur bis zu den feindlichen Stellungen zu fliegen und zu melden, wo sich die Gegner befinden, wie viele es sind…«
»Das ist mir zuviel… Arbeit!«
»Aufgespießte Augäpfel, zerhackte Lebern, abgeschnittene Füße…«
»Ich mach’s!« kreischte die Harpyie und leckte sich ihre schmierigen Lippen. Dann hob sie ab, ließ flatternd eine Pfefferwolke emporstieben und schwang sich schwerfällig nach Norden davon.
»Aber die Mundanier können sie doch mit einem Pfeil abschießen!« protestierte Chem ohne allzu große Überzeugung.
»Der Gestank wird sie schon weit genug fernhalten«, meinte Grundy gewitzt.
Nun kamen sie an die Spaltenschlucht und überquerten sie. Dies hier war die einzige sichtbare Zweibahnbrücke, deshalb wurde sie auch am meisten benutzt. Sollte die Mundanierwelle bis hierher vorstoßen, war dies die erste Brücke, die man zerstören mußte.
Der Spaltendrache war auch da. Er tobte und schnappte nach ihren Füßen, aber die Spalte war zu tief, als daß er eine wirkliche Gefahr für sie hätte darstellen können. »Los, kau dir doch deinen eigenen Schwanz ab, Dampfschnauze!« rief Grundy ihm zu und ließ eine Kirschbombe hinunterfallen, die er im Obstgarten von Schloß Roogna vorsichtig von einem Baum gepflückt hatte. Der Drache schnappte danach und schluckte die Kirsche gierig hinunter. Plötzlich ertönte ein ersticktes Rumpeln, und dem Drachen schoß der Rauch aus den Ohren. Doch das schien keinen Unterschied zu machen; das Ungeheuer tobte und wütete unentwegt weiter und verfolgte sie. Der Spaltendrache war zäh, da gab es nicht den leisesten
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