Nacht-Mähre
Zweifel.
Als sie endlich die andere Seite erreicht hatten, kehrte auch schon die Harpyie wieder zurück. »Es sind ungefähr dreihundert«, meldete sie. »Sie marschieren auf die Nickelfüßlererdspalten zu. Das gefällt mir überhaupt nicht; die Nickelfüßler lassen meistens nichts wirklich Eßbares zurück!«
Chem konzentrierte sich, und ihre magische Landkarte bildete sich vor ihr in der Luft. Darauf waren die Nickelfüßlererdspalten zu sehen, ein kleines Netzwerk von Bodenrissen. »Wo befinden sich die Mundanier jetzt genau?« fragte sie.
Die Harpyie machte genauere Angaben, und Chem verfolgte sie auf ihrer Karte. Dann flog die Harpyie davon, weil sie, wie sie ihnen erklärte, Probleme mit ihrem Menschengeruch hatte. Immerhin wußten sie jetzt genauer, wo sich der Feind befand. »Aber es sind nur dreihundert von ihnen«, bemerkte Chem. »Das weist darauf hin, daß sie die Hälfte ihrer Streitmacht zurückhalten, möglicherweise als Reserve.«
Sie berieten sich mit König Dor. »Ja, wir werden versuchen, sie in die Nickelfüßlerspalten zu treiben«, meinte er. »Wenn sie dort in Deckung gehen, werden sie es bald bereuen.«
Doch Dors Soldaten waren nicht in Form und auch nicht mehr die Allerjüngsten. Ihr Durchschnittsalter lag bei fünfzig Jahren. So kamen sie nur langsam voran. Es wurde ihnen klar, daß sie die Mundanier erst erreichen würden, nachdem diese das Nickelfüßlergebiet überwunden hatten. Welch eine Schande, sich eine solche prächtige Gelegenheit entgehen lassen zu müssen!
»Dann müssen wir eben in Stellung gehen und sie empfangen, wenn sie kommen«, entschied König Dor. »Wenn ich mich richtig erinnere, gibt es nördlich der Spalte einen Liebesquell…«
»Ja, hier«, sagte Chem und zeigte auf ihre Karte. »Wir sind schon dran vorbei, und der Pfad, der daran vorbeiführt, ist ein Einbahnweg. Den erreichen wir also von hier aus nicht mehr.«
»Das ist gut; ich will den Quell auch gar nicht erreichen. Im Gegenteil, ich möchte ihm aus dem Weg gehen, denn ich will nicht, daß meine Soldaten von seinem Wasser trinken.«
Grundy lachte. »Das ist wahr! Aber wenn wir etwas von diesem Wasser holten, um es den Mundaniern unterzujubeln, würden sie sich sofort mit jedem weiblichen Wesen paaren, das sie zu Gesicht bekommen…«
»Nein«, sagte Dor, »das ist nicht komisch, Grundy. Auf diese Weise kämpfen wir nicht.«
Der Golem schnitt eine Grimasse. »Ihr könnt sicher sein, daß die Mundanier sehr wohl auf diese Weise kämpfen würden! Die kennen keine Skrupel. Deshalb sind sie auch so zäh.«
»Aber wir haben Skrupel«, entgegnete König Dor. »Vielleicht ist es das, was uns von den Mundaniern unterscheidet. Und diesen Unterschied werden wir auch beibehalten.«
»Jawohl, Euer Majestät«, beugte sich der Golem angewidert.
»Welche Geländehindernisse liegen noch zwischen den Angreifern und uns?« fragte König Dor die Zentaurin.
»Ein Fluß, der jeden, der von ihm trinkt, in einen Fisch verwandelt«, sagte sie und zeigte auf die entsprechende Stelle.
»Ichabods Bericht zufolge sind sie weiter im Norden bereits auf diesen Fluß gestoßen, aber es könnte sein, daß sie nicht erkennen, daß es sich hier um denselben Fluß handelt. Und hier drüben ist der Friedenswald, wo die Leute so friedlich werden, daß sie sich einfach hinlegen und für alle Zeiten einschlafen…«
»Der wird den Mundaniern keine Schwierigkeiten machen«, bemerkte Grundy. »Die sind alles andere als friedlich!«
»Aber wir sollten unsere Truppen davon fernhalten«, erwiderte König Dor. »Und auch von dem Fluß. Wir müssen einen sicheren Wasservorrat finden. Noch etwas?«
»Nur die Nickelfüßler, aber die haben die Mundanier schon bald hinter sich. Wir werden wahrscheinlich am Fluß auf sie treffen.«
König Dor seufzte. »So sei es. Ich hoffe nur, daß wir sie ohne allzuviel Blutvergießen aufhalten können.«
Alle verharrten stumm. Imbri wußte, daß ihnen allen eine einzige große Sorge durch den Kopf ging: Würde dieser junge, unerfahrene König das Zeug dazu haben, die verheerenden Invasionstruppen aufzuhalten? Doch die Antwort darauf würden sie schon allzubald bekommen.
Zur Überraschung aller schien König Dor recht gut zu wissen, was er wollte. Er ließ die Soldaten entlang des Flusses in Stellung gehen, nachdem sie Gräben ausgehoben und Schutzwälle errichtet hatten, die mit Gestrüpp getarnt wurden, so daß die Bogenschützen die Feinde unter Beschuß nehmen konnten, ohne selbst außer
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