Nacht-Mähre
gebeugt. Als Imbri und Grundy materialisierten, hob er mürrisch den Kopf. »So weit ist es nun also gekommen!« knurrte er. »Ein Jahrhundert lang habe ich mich aus der widerlichen Politik herausgehalten, und nun habt ihr mich in die Ecke manövriert.«
»Jawohl, mein Herr«, sagte Grundy. Der Golem begegnete Humfrey immer halbwegs mit Respekt, weil dieser ihm vor langer Zeit, als er noch unwirklich gewesen war, zur Wirklichkeit und zum Wirklichsein verholfen hatte. Außerdem stand Humfrey ja gerade ein beachtlicher Machtzuwachs bevor. »Ihr müßt einfach in den sauren Apfel beißen, wie man so sagt, und König werden.«
»Xanth kennt keine sauren Äpfel«, gruffelte Humfrey. Er zog eine Grimasse, als seine alten Augen ein Regalbrett erblickten, auf dem eine Reihe magisch versauerter Äpfel lagen, die seine Worte Lügen straften. »Ich bin übrigens keineswegs der letzte Magier Xanths, wißt ihr.«
»Arnolde Zentaur zählt nicht«, sagte Grundy. »Sein Talent funktioniert erstens nur außerhalb Xanths, und außerdem ist er kein Mensch.«
»Beide Argumente sind ziemlich spitzfindig. Er wird auch noch an die Reihe kommen. Aber zuerst kommt Bink, der wird nach mir König werden.«
»Bink?« rief der Golem ungläubig. »Dors Vater? Der besitzt doch überhaupt keine magischen Fähigkeiten! König Trent hat doch damals die Regel außer Kraft setzen müssen, daß nur, wer Magie besaß, auch Bürger von Xanth bleiben konnte, nur damit Bink nicht verbannt wurde.«
»Bink ist ein Magier«, beharrte Humfrey. »Vielleicht sogar der mächtigste lebende Magier überhaupt. Die ersten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens wußte niemand davon; die zweiten fünfundzwanzig Jahre wissen es nur einige wenige Auserwählte. Jetzt muß es ganz Xanth erfahren, denn Xanth braucht ihn. Präg dir das in deinen häßlichen kleinen Kopf gut ein, Golem, denn du wirst die Nachricht verbreiten müssen. Vielleicht wird Bink die Kette sprengen.«
»Die Kette sprengen!« sendete Imbri. »Das war doch Euer Rat, mit dessen Hilfe wir Xanth vor der Nächstwelle retten sollten!«
»In der Tat«, stimmte Humfrey ihr zu. »Aber die Sache stellt sich als recht schwierig heraus. Ich werde keinen Erfolg haben, und ich kann nicht über die Zeit meines Unterganges hinaus Prophezeiungen erstellen. Aber ich glaube, daß Bink derjenige ist, der sie am wahrscheinlichsten sprengen wird – oder möglicherweise seine Frau.«
Golem und die Mähre blickten einander an. Hatte der Gute Magier nun völlig das bißchen Verstand verloren, das ihm noch verblieben war?
Die Gorgone erschien in der Tür. Ein schwerer, undurchsichtiger Schleier verhüllte ihr Gesicht gänzlich. »Ich habe deine Zauber und dein Mittagessen eingepackt, Liebster«, murmelte sie.
»Und meine Socken?« fauchte Humfrey. »Was ist mit meinen Ersatzsocken?«
»Die auch«, sagte sie. »Einen Zauber mag ich vielleicht gelegentlich vergessen, aber so etwas Wichtiges wie deine Ersatzsocken niemals.« Sie lächelte schief unter ihrem Schleier und setzte einen verschnürten Beutel vor ihm auf dem Schreibtisch ab.
»Doch nicht auf ein aufgeschlagenes Buch!« rief er. »Natürlich! Du mußt natürlich unbedingt die Seiten verschmieren!«
Die Gorgone rückte den Beutel neben das Buch. Dann fiel sie vor Humfrey auf die Knie. »O mein Gebieter, mußt du dich wirklich da hineinziehen lassen? Kannst du nicht von hier aus regieren?«
»Was heißt denn hier plötzlich ›mein Liebster, mein Gebieter‹?« fragte Grundy mißtrauisch. »Die Gorgone fällt doch sonst vor niemandem auf die Knie!«
Humfrey hob den Beutel auf. »Was sein muß, muß sein«, sagte er. »So steht es geschrieben – nämlich hier!« Er piekte mit einem knorrigen Finger auf die aufgeschlagene Seite. Im Buch stand: ES IST DEM GUTEN MAGIER NICHT BESCHIEDEN, DIE KETTE ZU SPRENGEN.
Der Schleier der Gorgone wurde immer dunkler, als Flüssigkeit hindurchzusickern begann. Imbri war erstaunt; konnte dieses schreckliche, angsteinflößende Geschöpf etwa weinen? »Mein Gebieter, ich flehe dich an – laß mich wenigstens mitkommen, um deine Feinde in Steine zu verwandeln!«
Plötzlich dämmerte Grundy die entsetzliche Wahrheit. »In Steine zu verwandeln… und dazu trägt sie einen Schleier, den sie für ein unsichtbares Gesicht eigentlich nicht brauchen würde – die Gorgone ist los!«
»Ihre Macht darf nicht zu früh eingesetzt werden«, sagte Humfrey. »Erst wenn der König von Xanth es befiehlt, sonst wird sie vergeudet werden, und
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