Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
seine langen Haare aus dem Gesicht. Koster hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren sollte, und beließ es bei einem kläglichen Grinsen. Er trat die Flucht nach vorne an.
»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Es tut mir sehr leid, was auf der Station passiert ist. Meine Aufgabe ist es, denjenigen zu finden, der Frau Henke ermordet hat. Ich glaube nicht, dass das Verbrechen unbemerkt geschehen konnte. Ich bitte Sie, sich bei uns zu melden, wenn Sie etwas gesehen oder gehört haben. Egal was.« Koster sah in der Runde nur verschlossene Gesichter. »Wer von Ihnen hat die Tote entdeckt?« Nach und nach gingen Hände in die Luft. Viele Hände. Das konnte nicht sein. »Bitte, wer …?«
Ein lautes Wehklagen unterbrach ihn. »Heilige Mutter Gottes, Jungfrau Maria. Er war da, das Ende naht …« Alle Köpfe drehten sich in die Richtung der Stimme. Es war der Mann, der Koster mit dem Ellbogen angestoßen hatte.
»Herr Bollmus, bitte, jetzt nicht.« Die Stimme des Oberarztes war schneidend. Das kümmerte den Patienten wenig. Zwar klagte er leiser, dafür aber schneller, dabei zupfte er sich seinen Bart.
So funktioniert das nicht, dachte Koster und blickte seinen Kollegen ratlos an. Liebchen zuckte mit den Schultern und startete seinerseits einen Versuch. »Es ist doch so: Ihre Mitpatientin ist hier auf der Station ums Leben gekommen. Irgendjemand muss doch etwas gesehen haben. Helfen Sie uns.«
Koster fühlte sich zunehmend unwohl. Das lief ganz und gar nicht so, wie er es sich erhofft hatte.
Die Stimme des Patienten Bollmus setzte zu einem Crescendo an: »Oh, oh, Mutter Gottes. Der Albus kommt. Selig- und heiliggesprochen. Er war da. Ich habe ihn bei ihr gesehen. Oh, oh. Ich habe sie gefunden.« Er drängelte sich mit zur Decke gestreckten Armen an den anderen Patienten vorbei und kam direkt auf Koster zu. Koster konnte den feindseligen Blick fast spüren und wich erschrocken zurück.
»Mon dieu«, feixte Paul Nika, der neben Koster auftauchte. Koster fand das nicht lustig, war aber froh, den Psychologen neben sich zu wissen. Dann hörte er, wie Oberarzt Neumann eine Krankenschwester anwies, den Patienten Bollmus auf sein Zimmer zu bringen. Gleichzeitig ergriff Liebetrau wieder das Wort. »Kennt jemand Frau Henkes Freundin Alba?«
Im Nachhinein vermochte Koster nicht zu sagen, ob Liebchens Frage oder die Tatsache, dass die Krankenschwester den Patienten grob aus dem Aufenthaltsraum bugsierte, der Katalysator war. Plötzlich schrien sich die Patienten gegenseitig an. Einige wiegten klagend den Oberkörper hin und her, andere schimpften vor sich hin. Eine Stimme übertönte den Lärm: »Wer schützt uns denn?«
Dann brach Chaos aus. Durchdringende, spitze Schreie erhoben sich. Die Patienten fingen an, sich gegenseitig zu schubsen, und jemand trat Koster auf den Fuß, während er gleichzeitig nach hinten gestoßen wurde, sodass er fast das Gleichgewicht verlor. Mühsam rappelte er sich auf, während die ersten Patienten auf dem Fußboden miteinander rangelten. Das Personal schrie Anweisungen, auf die niemand hörte, und über diesem ganzen Geräuschteppich hörte er immer wieder das »Wer schützt uns denn?«. Koster drehte sich um, um herauszufinden, wer der Schreihals war, als er neben sich sah, wie eine Frau sich kreischend und wehklagend ihre Haare ausriss. Daneben schlug ein alter Mann mit voller Wucht seinen Kopf gegen die Wand. Er sprang auf ihn zu, packte ihn von hinten und zog ihn zurück. Nur so konnte er ihn daran hindern, sich schwer zu verletzen. Dankbar übergab er den Mann an zwei Pfleger, die sich ihren Weg zu ihm gebahnt hatten. Eine andere Patientin sprach beruhigend auf die Frau ein, die jetzt wenigstens nicht mehr an ihren Haaren riss. Er stand schockiert und hilflos mitten im Raum. So etwas hatte er noch nie erlebt. Das hatte er nicht gewollt.
Was hatte er nur angerichtet?
Nachdem die Patienten sich beruhigt hatten und auf ihre jeweiligen Zimmer gebracht worden waren, bat Koster das Personal in den Dienstraum der Station. Kopfschüttelnd stand er neben Liebetrau.
»Ehrlich, Liebchen, ich bin schon den verschiedensten Menschen begegnet. Tätern, Opfern, Zeugen oder Verdächtigen. Aber so was ist mir noch nicht untergekommen. Was habe ich nur angerichtet?«
»Mir musst du auch einen Dolmetscher besorgen, der mir das erklärt!«
Sein Kollege schien sich sichtlich unwohl zu fühlen. Er wischte sich mit dem Arm über die Stirn und steckte sich ein Globuli nach dem anderen in den Mund. Selbst
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