Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
sehr vorsichtig berühren …«
Dass sie der Tod ihrer Mutter schwer mitgenommen hatte, stand außer Zweifel, doch Maria Rosenstein bewahrte Fassung. Als Tessa näher kam und ihr Beileid aussprach, sah sie die Ähnlichkeit mit der Mutter. Wo wohl der Vater von Maria Rosenstein war? Tessa hörte den Ausführungen des Professors nicht mehr zu, sie hatte nur Augen für das verstörte Wesen ihr gegenüber.
»Sind Sie so weit?«, fragte Clement.
Wieder war die geflüsterte Antwort kaum zu verstehen. Instinktiv nahm Tessa die Hand der jungen Frau, und sie gingen nebeneinander die Treppe hinunter. Maria Rosenstein blieb vor der Tür stehen. Die typische Reaktion aller, die diesen Raum zum ersten Mal betraten. Eingeschüchtert, voller Bangen auf den Anblick, der sie erwartet.
Als sie ihre Mutter sah, riss sie sich von Tessas Hand los und schrie kurz auf. Tessa schob ihr einen Stuhl hin, auf den Maria Rosenstein sich kauerte und die Hand ihrer Mutter streichelte. Tessa stand still neben ihr. Zu sagen gab es nichts, nur die Trauer zu teilen. Die beiden Männer blieben im Hintergrund. Leise gemurmelte Fragen webten sich von Zeit zu Zeit in das Wimmern der Tochter. »Warum? Warum nur?« Auch darauf gab es nichts zu sagen.
Die Hand der Tochter wanderte zum Kinn ihrer Mutter, wo sie liebevoll das kleine Grübchen liebkoste. Das war gut. Anders konnte niemand begreifen, warum die Mutter, mit der man vor wenigen Tagen noch telefoniert hatte, die ihren Enkel hatte sehen wollen, die für einen da gewesen war, nie wieder lächeln würde.
Plötzlich drehte sich Maria Rosenstein zu den beiden Männern um.
»Ich möchte die Haare meiner Mutter. Darf ich ihr Haar abschneiden?«
Koster und Clement sahen sich ratlos an. Dann zuckte der Rechtsmediziner mit den Schultern. »Also, ja, meinetwegen.«
Maria Rosenstein fing an, leise zu singen. Ein Wiegenlied für die tote Mutter. Langsam bewegten sich die Hände der Tochter, um aus den Haaren der Mutter einen Zopf zu flechten. Dann nahm sie Alexander Clement die Schere aus der Hand, die er in der Zwischenzeit geholt hatte, und schnitt den Zopf mit einer entschlossenen Bewegung ab. Sie ließ die Schere fallen und fing endlich an zu weinen.
*
Später saßen sie zu dritt in einem Konferenzraum des Instituts. Karg eingerichtet mit einem großen ovalen Tisch und Stühlen drum herum. Die Wände schmucklos weiß. Maria Rosenstein wollte Kosters Fragen beantworten. Sie hatte darum gebeten, dass Tessa dabeiblieb. Und Tessa hatte ihr diese Bitte nur zu gern erfüllt. Sie hoffte, etwas mehr über die verschlossene Gabriele Henke zu erfahren.
»Was war Ihre Mutter für ein Mensch?«, fragte Koster.
»Wissen Sie, meine Mutter hatte es nie leicht. Sie hat mich allein großgezogen. Meinen Vater kenne ich nicht. Wir hatten nie Geld.« Maria Rosenstein fuhr sich mit der Hand durch die kurzen blonden Locken. »Bis heute nicht.« Fahrig nestelte sie aus ihrer Handtasche eine Zigarettenpackung.
»Darf ich?«
Koster zuckte mit den Schultern. »Wir machen das Fenster auf. Das geht schon.«
Mit zitternden Fingern zündete sie sich eine Zigarette an, atmete tief ein und blies den Rauch Richtung Fenster. Sie bot Koster und Tessa auch eine an. Der Kommissar nahm das Angebot lächelnd an.
»Es ging meiner Mutter schlechter in den letzten Monaten. Als sie sich von der Brücke … Ich habe sie gedrängt, sich stationär behandeln zu lassen. Ich habe darauf bestanden …« Ihre Stimme versagte. »Ich weiß nicht, wie ich es meinem Sohn beibringen soll. Er ist doch erst vier Jahre. Ermordet. Wie soll er verstehen, dass seine Oma nicht wiederkommt?« Sie schaute zu Tessa. »Wenn sie nur nicht hierhergekommen wäre, dann würde sie noch leben.«
»Wir wissen nicht, was passiert ist. Und warum es passiert ist.« Koster schaltete sich ein, bevor Tessa antworten konnte. »Die Ermittlungen stehen noch ganz am Anfang. Deshalb brauchen wir Ihre Hilfe. Ist in letzter Zeit irgendetwas Ungewöhnliches passiert?«
Maria Rosenstein drückte ihre Zigarette auf dem Fenstersims aus und steckte den kleinen Stummel fürsorglich zurück in die Packung.
»Meine Mutter litt seit Jahren an Depressionen. Ich kann mich nicht erinnern, sie je richtig glücklich gesehen zu haben. Sie zog erst vor ein paar Monaten von Dresden nach Hamburg. Sie wollte einen Tapetenwechsel. Erhoffte sich einen Neuanfang. Ich war dagegen. In Dresden hatte sie wenigstens mich und ihr Enkelkind.« Sie sah die beiden eindringlich an. »Sie litt immer
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