Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
schlimmer.«
»Warum Hamburg?«, fragte Koster.
»Ihr gefiel die Nähe zum Meer. Sie war einmal mit meinem Vater an der Nordsee gewesen. Das hatte sie erzählt. Wissen Sie, meine Mutter hat sich nie davon erholt, dass er sie verlassen hat. Sie hatte gerade angefangen zu studieren, als sie mit mir schwanger wurde. Er hat sie sitzengelassen. Sie hat ihr Studium abgebrochen und ist arbeiten gegangen, um für uns zu sorgen.« Sie schüttelte den Kopf und streichelte sich selbst tröstend über den Arm. »Ich bin schon mein Leben lang sauer auf meinen Erzeuger. Meine Mutter nicht. Sie hat ihn geliebt. Irgendwie. Verziehen hat sie ihm nicht, und ihr Herz war blockiert für jeden anderen Mann. Aber sie hat es probiert.« Sie puhlte eine neue Zigarette aus der Packung und zündete sie gierig an.
»Hat sie Ihren Vater nie wieder gesehen?«, fragte Tessa. Ihr fielen sofort massenhaft Fragen ein, die sie gerne gestellt hätte. In der Therapie hatte Gabriele Henke nichts von diesem Mann erzählt. Sie hatte das Thema vermieden und sich herausgewunden, wenn Tessa es direkt angesprochen hatte.
»Vielleicht war sie zu stolz. Oder sie hat ihn nicht gefunden. Ich weiß es nicht. Ich kenne nicht einmal seinen Namen. Auf meiner Geburtsurkunde …« Sie starrte Koster erschrocken an. »Jetzt erfahre ich nie mehr, wer mein Vater war. Meine Mutter hat ihr Geheimnis mit ins Grab genommen.« Sie lachte auf und schüttelte dann resigniert den Kopf. »Wer tut ihr denn so etwas an? Warum sind solche gefährlichen Patienten nicht weggeschlossen? Es ist alles so unwirklich.«
Tessa holte ein Taschentuch aus ihrer Jacke und reichte es ihr. »Unsere Patienten sind nur für sich selbst gefährlich.«
»Ach ja, und wer hat dann meiner Mutter das angetan?«, fuhr sie Tessa an. »Was soll ich denn den Reportern sagen? Die rufen ständig bei mir an.«
Koster wirkte sichtbar beunruhigt. »Die Presse? Geben Sie keine Interviews. Geben Sie keine Kommentare. Wenn Sie wollen, geben Sie eine schriftliche Pressemitteilung an die DPA . Am besten über Ihren Anwalt. Haben Sie einen Anwalt?«
»Ein Freund meines Mannes ist Anwalt. Vielleicht kann er …« Sie schniefte in das Taschentuch. »Meine Mutter wollte glücklich sein, einmal genug Geld haben, um sich ein paar Wünsche erfüllen zu können. War das denn zu viel verlangt?« Maria Rosenstein verlor ihre mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung.
*
Es war bereits Mittag, als sie sich vor dem Institut von Maria Rosenstein verabschiedeten. Es ging ein leichter Wind, doch die Sonne hatte es noch nicht durch die Wolkendecke geschafft. Dennoch zeigten die Bäume erste Knospen, wo vor einer Woche triste, kahle Zweige waren. Es hätte nach Frühling riechen sollen. Doch Koster hatte den Geruch der Toten in der Nase. Er legte den Kopf in den Nacken, drehte ihn vorsichtig und versuchte seine Verspannung zu lösen, während er neben Tessa über das Klinikgelände ging. Er steckte sich eine Zigarette an und inhalierte tief.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie.
»Sind Sie jetzt meine Therapeutin?«, erwiderte Koster unnötig scharf und blieb stehen. Er hatte genug von dieser Seelenklempnerei. Er wollte nicht jedes Gefühl ständig hinterfragen.
Tessa schaute ihn stirnrunzelnd an. »Es ist schwer, den Schmerz der Angehörigen auszuhalten. Wir haben wenige Rituale, die uns bei der Trauer helfen. Kennen Sie den Film Nokan – Die Kunst des Ausklangs? «
»Nie gehört.« Koster schüttelte den Kopf. Er bereute seine abweisende Reaktion auf ihre gut gemeinte Frage.
»Ein japanischer Film. Es geht um einen jungen Mann, der einen Job sucht und zufällig in einem Bestattungsinstitut landet. Weil er das Geld braucht, bleibt er. Dann entdeckt er die ungeahnte Würde des Nokan-Zeremoniells.« Sie lächelte. »Sie müssen sich den Film ansehen. Es geht um Abschied nehmen. Um die Ruhe, mit der sie die Verstorbenen vor den Augen der Angehörigen waschen, kleiden und schminken. Ich kann es nicht beschreiben. Es ist würdevoll, fast zärtlich. Die Begleitung auf der letzten Reise. Ich wünschte, wir hätten ein nur annähernd so tröstliches Ritual.« Sie seufzte leise. »Bei uns ist alles rund ums Sterben ein Tabu. Der Tod ist uns fremd geworden. Als passiere es nur den anderen.«
Er ließ seine Schultern kreisen und versuchte sie zu lockern. Sie hatte gefragt, wie es ihm ging. Eigentlich wollte er doch ganz gerne mit ihr darüber sprechen.
»Es ist ein meditativer Film. Oder ein melancholischer. Wie man will. Und
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