Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
schmoren. Das Alibi ließ sich überprüfen. Er gab Liebetrau ein Zeichen, die Vernehmung zu beenden.
»Pass auf, wir sprechen uns morgen wieder. Komm um 18.00 Uhr.« Er erklärte ihm knapp, dass er noch kurz warten müsste, bis ihm jemand seine Aussage zur Unterschrift vorlegen würde. Dann könne er gehen. Philipp drehte sich mit flackerndem Blick nach Koster um und schien es kaum fassen zu können, dass er nach Hause durfte.
»Er lügt«, sagte Liebetrau, nachdem der Pflegeschüler gegangen war. »Hast du seine Augen beobachtet?«
Koster schüttelte den Kopf.
»War ganz einfach. Auf die simplen Fragen nach seiner Person und nach üblichen Erinnerungen wanderten seine Augen immer nach links. Als ich ihn fragte, was ein Pflegeschüler so macht, musste er nachdenken – seine Augen wanderten nach rechts. Verstehst du?«
»Kein Wort.«
»Erinnerst du dich nicht mehr an die Fortbildung letztes Jahr?« Liebchen verdrehte die Augen. »In Travemünde. Neurolinguistisches Programmieren. Weißt du nicht mehr, wie uns dieser Psycho-Schnösel seine Videos gezeigt hat. Das kann man prima in der Vernehmung anwenden.«
»Dass du das kannst!«, sagte Koster und nickte ihm anerkennend zu. Liebchen schaffte es immer wieder, ihn zu überraschen.
Sein Kollege strahlte triumphierend. »Jau. Auf meine Fragen nach seinem Alibi hat er sich nicht erinnert, sondern nachgedacht. Er hat uns Mist erzählt. Und er hat geschwitzt. Anzeichen von Stress. Das Jungchen hatte Angst, sich zu verraten.«
»Nur, warum? Was hatte er mit Drost und Henke laufen? Oder geht es um etwas ganz anderes?« Koster kribbelte es im Magen. Endlich eine erste Spur. Er blickte auf seine Uhr. Kurz vor 18 Uhr. Wenn Liebchen die Obduktion übernähme, könnte er den lästigen Papierkram erledigen und würde es vielleicht sogar noch rechtzeitig nach Hause schaffen.
»Liebchen, tust du mir den Gefallen und fährst zur Obduktion. Die müsste schon laufen. Ich war heute Morgen mit ihrer Tochter bei der Verabschiedung, ich kann nicht zusehen, wie Alexander sie aufschneidet. Das pack ich nicht. Wir treffen uns dann später zur Lagebesprechung, ja?«
»Geht klar.«
Auf Liebchen war Verlass.
*
Tessa blätterte in ihren Notizen. Sie hatte eine weitere Doppelsitzung mit KianaChavari verbracht und wusste inzwischen mehr über die Symptome, die das Mädchen quälten. Kiana litt an einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung. Und nun war ein Mord geschehen. Dabei war sie im Krankenhaus, um sich endlich sicher fühlen zu können. War sie sicher? Selbst wenn der Mord an Gabriele Henke nichts mit Kiana zu tun haben sollte, konnte sie es dem Mädchen nicht zumuten, sich schon wieder mit Mord und Totschlag zu konfrontieren. Gestern hatte sich die Kleine tapfer gehalten. Was dachte Kiana über den Mord an Henke? Die Gefahr der Retraumatisierung war groß. Die erlittenen Qualen waren in Kianas Gedächtnis wild durcheinandergewürfelt. Wie in einem Schrank, in den man nur schnell alles hineinwirft, ohne Ordnung, ohne System. Die Tür schließt kaum noch, und von Zeit zu Zeit fällt etwas heraus. Die herausfallenden Erinnerungsstücke sind belastend und mit Angst, Verzweiflung und starken Körpersymptomen verbunden. Jede erneute reale Gefahr könnte ihr Gehirn nicht verarbeiten. Damit wäre Kiana nun wirklich nicht geholfen. Tessa überlegte krampfhaft, wo das Mädchen sonst behandelt werden könnte. Durch den Asylantrag hatte Kiana Residenzpflicht und durfte die Stadt nicht verlassen. Eine Behandlung in Hamburg käme also nur im Bundeswehrkrankenhaus infrage. Dort kannte man sich zwar bestens mit Kriegstraumata aus, aber die Präsenz von Soldaten dürfte für das Mädchen kaum die richtige Umgebung sein. Es war wie verhext.
Tessa schrieb sich die Fragen auf ihr Stundenprotokoll für heute. Was wollte sie ansprechen? Einen Teil der Kindheit hatte Kiana in Deutschland verbracht. Es ging ihnen hier gut, doch weil der Vater in der Fremde so litt, war er mit seiner Familie kurz vor der Machtübernahme der Taliban zurückgekehrt. Er war der irrigen Hoffnung gewesen, dass sein Land ihn brauchte. Er hatte die Horrormeldungen über die Warlords nicht geglaubt und hegte zeitweilig sogar die Illusion, die Taliban brächten eine Verbesserung. Vor Ort allerdings zerstob dieser Traum rasch. Es folgten Jahre der Unterdrückung. Eines Tages dann der fatale Fehler: Der Vater wehrte sich, als Tugendwächter seine Frau bestrafen wollten, weil sie nicht züchtig bedeckt die Straße
Weitere Kostenlose Bücher