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Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)

Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angélique Mundt
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dass er sich in ihnen verlieren konnte.
    *
    Tessa ließ sich das Gespräch Satz für Satz noch einmal durch den Kopf gehen. Könnte David Brömme recht haben, dass Philipp die Patienten beklaute? Oder machte er sich nur wichtig? Noch ein Skandal? Wem konnte sie überhaupt noch trauen? Sie spürte die Angst irgendwo in ihrem Hinterkopf lauern. Sie musste mit Mathilde sprechen. Und mit dem Oberarzt. Darauf freute sie sich genauso wie auf einen Besuch beim Zahnarzt. Aber alles zu seiner Zeit. Das musste warten.
    Sie sah in die Studienunterlagen, die Koster in Henkes Wohnung gefunden hatte. Es war Tessa ein Rätsel, wie sie an diese Papiere gekommen war. Es war das Studienprotokoll – die genaue Beschreibung des Ablaufs der Medikamentenstudie. Und die Stichprobendokumentation. Dazu bereits veröffentlichte Artikel anderer Autoren, die eigentlich nichts mit der Studie zu tun hatten. Tessa legte sie zunächst zur Seite, fragte sich aber, was Gabriele Henke daran interessiert hatte? In den Artikeln ging es um Suizidalität und Persönlichkeitsveränderung als Nebenwirkung von Antidepressiva. Hatte sie geargwöhnt, dass das neue Studienmedikament als eine Nebenwirkung die Selbstmordgefährdung erhöhte? Ihres Wissens war es seit Studienbeginn zu keiner außergewöhnlichen Zunahme von Selbstmorden gekommen. Und Isabell Drost? Ja, vielleicht. Auch auf anderen Stationen hatte es in den letzten Monaten Suizide gegeben. Aber nicht all diese Patienten nahmen das neue Medikament ein. Hier war der letzte Ort für die Verzweifelten. Manchmal ließ sich auch mit größter Menschlichkeit nicht verhindern, dass die, die den Sinn des Lebens suchten, den Notausgang nahmen.
    Es hatte Tessa Jahre gekostet zu verstehen, dass ihre Schuldgefühle ihre Kräfte überforderten. Wer war sie, dass sie Entscheidungen anderer infrage stellen durfte? Die Entscheidung, sich nicht mehr spüren zu wollen. Keine Schmerzen oder Erniedrigung mehr aushalten zu können. Sie versuchte zu verstehen, ob eine Erkrankung vorlag, die die Entscheidungen des Menschen derart beeinflusste, dass er ohne Depression zu einem anderen Schluss gekommen wäre. Diese Menschen verdienten größtmöglichen Schutz vor sich selbst. Aber es gab auch die anderen. Die, die sich entschieden hatten, anderswo nach einem Sinn zu suchen. Waren sie bei klarem Verstand, musste sie sie ziehen lassen. Tessa wusste, dass nicht alle Kollegen diese Haltung teilten. Es war ein Tabu, darüber zu sprechen. Sie versuchte nur, sich ihren Respekt vor den Gefühlen, Gedanken und Handlungen ihrer Patienten zu bewahren. Gerade wenn sie unliebsame Entscheidungen treffen musste. Jemanden in einem Zimmer einzusperren, ihn per Video zu beobachten und alle scharfen Gegenstände außerhalb seiner Reichweite zu bringen, war ein massiver Eingriff in die Selbstbestimmung.
    Immer wieder fühlte sie sich elend, wenn sie solche Anordnungen geben musste. Inzwischen hatte sie verstanden, dass wir alle mit der einen oder anderen Schuld aufwuchsen. Tessa selbst hatte von ihrer Mutter eingetrichtert bekommen, dass der Vater gegangen sei, weil die Verantwortung für zwei kleine Kinder zu groß war. Dass »gegangen« in ihrem Fall hieß, dass der Vater sich selbst das Leben genommen hatte, erfuhr sie erst viel später. Auch, dass seine Hausarztpraxis schlecht lief und er mit Depressionen kämpfte, erzählten ihr andere Menschen.
    An guten Tagen sagte sich Tessa, dass sie stolz darauf sein müsse, dass es ihr gelungen war, sich aus dieser Schuld-Falle zu befreien. Weitestgehend. Und nur an guten Tagen. Wenn keiner da war, der die Erinnerungen wachrief. Wie ihr Bruder Sascha. Jetzt dachte sie schon wieder an ihn. Erst gestern hatte sie überlegt, ihn anzurufen. Sonst sprachen sie sich mitunter monatelang nicht.
    Kurz blitzte die Erinnerung an die langen Nachmittage vor ihrem Wohnhaus in der Sozialbausiedlung auf. Dorthin hatten sie umziehen müssen, nachdem der Vater »gegangen« war und die Mutter sich das gepflegte Einfamilienhaus nicht mehr leisten konnte. Dreckige Straßen, lungernde Kids, verbitterte Mütter. Mit ihnen hatte keiner gespielt. Sie und ihr Bruder waren anders. Keinen Vater, eine bestenfalls unkonventionelle, schlimmstenfalls verrückte Mutter. Die anderen Kinder hatten Angst vor Sascha. Er reagierte aggressiv auf ihre Missachtung und verschaffte sich mithilfe seiner Fäuste Respekt. Es spielte trotzdem keiner mit ihnen. Es war eine einsame Kindheit.
    Tessa schüttelte die Erinnerung ab, setzte sich gerade

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