Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
hin. Zurück zu den Studienunterlagen. Die Studie lief seit neun Monaten. Hundertfünfzig Fallbehandlungen waren dafür vorgeschrieben. Wie viele hatte Neumann jetzt? Fast komplett. So viele? In der kurzen Zeit? Wie hatte er das geschafft? Sie fing an auf einem Notizzettel die Namen ihrer Patienten zu kritzeln, die das Medikament bekommen hatten. Niemals käme sie auch nur auf fünfzig. Wie konnte das sein? Sie blätterte weiter vor in den Unterlagen, um die Chiffre-Kennzeichnung mit den Behandlungsdaten zu vergleichen. Mitten in den Chiffrelisten lag ein handgeschriebener Zettel:
ABLA: ICD = 934? / DSM = 41913?
Tessa konnte ihn nicht den Chiffrelisten zuordnen. Sie erkannte sofort die Kürzel ICD und DSM . Das ICD -10 war das Internationale Klassifikationssystem aller Krankheiten. Herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation. Jede Diagnose wurde hier durch eine Zahlenreihe verschlüsselt. DSM stand für Diagnostic and statistical manual of mental disorders. Was nichts anderes war als das analoge Klassifikationssystem der Amerikaner. Die hatten natürlich ein eigenes herausgebracht. Tessa kannte die meisten vierstelligen Klassifikationsnummern des ICD auswendig. So wurde beispielsweise im ICD die Depression unter F32 oder F33 verschlüsselt. Zwei weitere Ziffern präzisierten dann die Art der Depression. Aber 934? Diese Nummer sagte ihr nichts. Tessa nahm sich das ICD -10 und schlug unter F9 nach. Sie fand F93.3 Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität und musste unwillkürlich kichern. Damit waren doch nicht hoffentlich sie und ihr Bruder Sascha gemeint? Unsinn. F93.4 gab es nicht. Diese Nummer war nicht vergeben. Merkwürdig. Und im DSM ? Da gab es überhaupt keine Verschlüsselung, die mit 419 anfing. Was sollte das? Die Fragezeichen hinter den Ziffern hatten die höchste Berechtigung. Welcher Patient hatte das Chiffre ABLA bekommen und diese merkwürdigen Diagnose-Codes? Alles Unsinn. Und doch, irgendetwas klingelte bei Tessa. Sie kam nur nicht drauf. Sie packte den Zettel beiseite. Damit wollte sie sich später beschäftigen.
Am einfachsten wäre es, wenn sie an die Originaldaten käme. Wer gab die Daten ein? Die Sekretärinnen sicher nicht. Oberarzt Neumann selbst? Er hatte keinen Assistenten in der Studie integriert. Alles war zur Chefsache deklariert worden. Sie war froh gewesen, dass sie nicht mit Neumann zusammenarbeiten musste. Jetzt fiel ihr auf, dass das ein ungewöhnliches Prozedere war. Dann musste Neumann alle Daten auf seinem Laptop haben. Wie sollte sie darankommen? Ob sie ihn fragen konnte? Sie hörte ihn schon mit süffisanter Stimme antworten: Liebe Frau Doktor Ravens. Sie erfahren die Ergebnisse der Studie früh genug. Überzeugt Sie die bisherige Wirkung nicht?
Und sie musste zugeben: Er hätte recht. Die Wirkung war erstaunlich. Die Patienten hatten außer ein paar anfänglichen Magen-Darm-Problemen keine Nebenwirkungen. Sie blühten förmlich auf. Einige schossen vielleicht sogar etwas über das Ziel hinaus. Aber das sollte ihnen gegönnt sein. Und doch schien es diesen Unterlagen nach so, als ob mit den Daten etwas nicht stimmte. Die Fallzahlen waren auf jeden Fall zu hoch. Hier musste sie recherchieren. Und wenn die geschönt waren? Das wäre eine Katastrophe.
Alleine kam sie nicht weiter. Sie landete wieder bei Sascha. Er war das Zahlengenie in der Familie. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Informatik. Tessa konnte nichts damit anfangen, aber er schien sich wohl zu fühlen. Ob er ihr helfen würde? Sie wollte ihn anrufen. Aber vorher brauchte sie die Originaldaten. Ohne die konnte selbst Sascha nicht weiterhelfen.
Wieder meldete sich eine vage Erinnerung, und während sie aus dem Fenster sah, reifte ganz langsam ein Entschluss in ihr. Heute in der Abendübergabe wollte sie es versuchen.
*
Er hatte sie angerufen und gefragt, ob sie sich nicht außerhalb der Klinik treffen könnten. Der Krankenhausgeruch setzte ihm zu. Und schließlich konnte sie ihm auch in einem netten Café von ihren Recherchen berichten, oder? Vielleicht kannte sie sogar die Caffèteria ?
Koster verstand sich selbst nicht mehr. Gegen die Klinik sträubte sich alles in ihm, doch die Therapeutin holte er in sein Lieblingscafé. Ob das klug war?
Wenig später saßen sie sich vor zwei Schalen Milchkaffee gegenüber. Sie sah anders aus in dieser Umgebung. Strahlender. Und er war froh, dass sie nicht zur der Sorte Frau gehörte, die aus der Bestellung ihres Kaffees eine Odyssee
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