Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
tun?
»Pflegekräfte haben ihren eigenen Ehrenkodex. Lassen Sie mich mit Mathilde sprechen. Ich habe einen guten Draht zu ihr.« Sie rührte nachdenklich in ihrem Milchkaffee. »Ich frage Mathilde, ob er Springer war. Vielleicht erklärt das, warum Philipp nachts auf der Station war.«
»Fallzahlen, Matrix, irgendwelche Ombudsmänner. Jetzt Springer. Für ein Gespräch mit Ihnen braucht man ein Lexikon.«
»Das ist ganz simpel. Jede Station ist nachts nur mit einer Nachtschwester besetzt. Das ist extrem wenig. So gibt es für das ganze Haus noch eine Pflegekraft extra, die über die Stationen geht und aushilft, wo immer Hilfe nötig ist. Verstehen Sie? Der Springer gehört zu keiner Station.«
Er hob die Augenbrauen und nickte.
»Kommissar Liebetrau hat die Dienstpläne der Station geprüft. Aber nicht die des ganzen Hauses, oder? Und nur da steht der Springer drauf.« Sie zögerte für ein paar Sekunden. »Und wenn Philipp als Springer im Haus war, könnte er auf der Station gewesen sein. Er könnte – und ich sage könnte – im Zimmer von Drost und Henke gewesen sein.«
Koster schüttelte ungläubig den Kopf. »Der junge Mann hat uns eine Menge zu erklären. Wir sprechen ihn heute Abend. Danke für die Information. Und ja, bitte versuchen Sie Ihr Glück bei Schwester Mathilde. Wenn Sie nicht weiterkommen, greife ich ein.«
»Dafür brauchte Philipp dann Kiana. Als Alibi«, sagte sie.
»Das Wohlergehen Ihrer Patienten ist Ihnen wirklich wichtig, nicht wahr? Ich bewundere das sehr.« Er strich ihr wie beiläufig über die Hand, die vor ihm auf dem Tisch lag.
Ein erstes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Als er es sah, fühlte er ein Ziehen in der Brust.
*
Die Szene ähnelte der am Tag zuvor. Wieder saß Liebetrau dem jungen Pflegeschüler an dem zerschrammten Tisch im Polizeipräsidium gegenüber. Koster hielt sich erneut im Hintergrund. Philipp sah in der Neonbeleuchtung blass und ausgemergelt aus. Koster kam es vor, als ob das Selbstbewusstsein des Jungen über Nacht geschrumpft und der flapsige Tonfall nur Trotz und Gewohnheit war. Er hatte mit Liebetrau über das gesprochen, was er von Tessa erfahren hatte. Sie hatten gemeinsam beschlossen, Philipp hart zuzusetzen. Er sollte sich buchstäblich drehen und winden, bis er auspackte.
Liebetrau schob langsam das Aufnahmegerät noch etwas näher an den Pflegeschüler heran, richtete es akribisch aus. Er warf dem Jungen einen Blick zu, dann schaltete er das Aufnahmegerät an und vergewisserte sich, dass das rote Aufnahmelicht leuchtete.
Einen Moment war Stille. Dann benannte Liebetrau bedächtig aber deutlich die anwesenden Personen, Uhrzeit und das Datum. Er belehrte den Pflegeschüler, dass er erneut als Zeuge zum Tode Isabell Drosts vernommen würde.
Philipp schrumpfte noch weiter in sich zusammen.
Einen Zusammenhang zum Tod von Gabriele Henke erwähnte Liebetrau nicht. Das ließ sich nicht herleiten. Noch nicht.
»Möchtest du einen Anwalt sprechen?«, fragte Liebchen freundlich.
»Ich brauch doch keinen Anwalt. Ich hab mit Isabells Tod nichts zu tun. Nada.«
»Wir haben dein Alibi überprüft.« Liebchen schaute Philipp erwartungsvoll an.
»Na, sehen Sie, dann ist ja alles paletti.« Der Junge lächelte matt.
»Kiana Chavari sagt, sie habe dich in dieser Nacht sicher nicht gesehen. Und sie hätte keine wie auch immer geartete Beziehung zu dir.« Er zog die Augenbrauen hoch, als freute er sich auf die Antwort, mit der Philipp versuchen würde, sich aus der Situation zu manövrieren.
»Oh.«
Liebetrau nickte und beugte sich träge vor. »Genau. Sie sagt, du hättest sie erpresst, für dich zu lügen.«
»Oh.« Philipps Gesicht hatte inzwischen eine grünliche Blässe angenommen.
Liebetrau nickte erneut. »Jetzt frage ich mich natürlich, warum du dir ein Alibi verschaffen wolltest. Das brauchst du nur, wenn es etwas zu verheimlichen gibt, nicht wahr? Und was könnte das sein?«
Stille.
»Das nennt man Nötigung. Darauf steht in besonders schweren Fällen sogar Freiheitsstrafe …« Liebchen ließ das Ende des Satzes im Raum schweben.
»Ich muss nicht mit Ihnen sprechen, Mann. Ich will doch einen Anwalt. Ihr redet ganz wirres Zeug.« Der Pflegeschüler machte Anstalten aufzustehen.
Erstmals mischte sich Koster ein: »Sie können Ihren Anwalt anrufen, Herr Michalik. Aber erzählen Sie uns erst, wo Sie in der Nacht als Springer überall tätig waren. Sie waren doch Springer, oder?«
Philipp nickte zerknirscht.
»Warum haben Sie uns das
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