Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
einem Mann allein Zeit in ihrem Zimmer verbracht. Und die Station hat sie überhaupt noch nicht verlassen, seit sie bei uns ist.« Tessa trank einen großen Schluck Kaffee. »Wollen wir sie noch einmal zusammen sprechen?«, fragte sie versöhnlich. »Sie werden sehen, Kiana trifft sich mit niemandem.«
»Was dann aber nicht gut für Philipp Michalik wäre«, entgegnete Liebetrau.
Daran hatte Tessa nicht gedacht. »Wozu braucht er ein Alibi?«
»Er war in der Nacht auf der Station, obwohl er keinen Dienst hatte.«
»Heißt das, Sie glauben mir?«
»Ihnen glauben?« Liebetrau wirkte irritiert.
»Na, dass Isabell Drost sich nicht selbst das Leben genommen hat.« Tessa stockte. Sie hoffte auf Zuspruch. Einerseits. Andererseits bedeutete das einen weiteren Mord … und Koster hatte gesagt …
»Ich mach nur meinen Job ordentlich, sonst nichts«, murrte Liebetrau. »Es war Selbstmord. Aber die Glaubwürdigkeit Ihres Pflegeschülers lässt zu wünschen übrig. Und wer einmal lügt …«
»Ich dachte, Sie … Egal. Lassen Sie uns zu Kiana gehen. Vielleicht kann ich meinen Job machen, und wir helfen uns gegenseitig?«
Das Friedensangebot nahm Liebetrau lächelnd an.
Kiana kauerte auf dem Sofa im Aufenthaltsraum. Die junge Katharina Waag saß neben ihr und strich ihr behutsam über den Rücken, David Brömme saß im Sessel vor ihr. Im Hintergrund lief dramatische Musik. Tessa erkannte den Walkürenritt aus Richard Wagners Oper. Die Klänge gaben der ganzen Szenerie eine Dramatik, die Tessa nach den nächtlichen Ereignissen nicht ertragen konnte. Sie lief zur Musikanlage und drehte den Ton ab. In der plötzlichen Stille ruckte Kianas Kopf hoch, und sie erstarrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
»Guten Morgen. Ich will nicht stören, Kiana, aber der Kommissar behauptet, du hättest ein Verhältnis mit Philipp. Das ist Unsinn, oder?«
»So subtil wie ein geworfener Pflasterstein.« Liebetrau stöhnte. »Das hätte ich auch gekonnt. Und dann noch eine Suggestiv-Frage.«
»Sorry. Für mehr reicht’s heute nicht mehr.« Tessa hockte sich vor Kiana. Katharina Waag blickte Kiana ebenso entsetzt an wie Liebetrau Tessa. »Wir gehen den kurzen Weg, ja, Kiana? Geradeheraus. Du kannst mir vertrauen.«
Alle hielten gespannt den Atem an. Nach der aufpeitschenden Musik wirkte Kianas leise Stimme wie das Maunzen einer jungen Katze.
»Philipp ist immer nett zu meinem Bruder. Mein Bruder kennt doch niemanden. Manchmal gehen die beiden zusammen etwas trinken. Gestern kam Philipp zu mir und verlangte von mir, für ihn zu lügen. Ich soll sagen, dass er in der Nacht, in der Isabell starb, bei mir auf dem Zimmer war.« Ihre Stimme klang etwas fester. Als ob es ihr guttäte, die Lüge loszuwerden. »Ich hatte nie etwas mit ihm.«
»Himmeldonnerwetter, das ist das reinste Irrenhaus. Das Jungchen lügt«, rief Liebetrau. »Ich hab’s gewusst. Den kauf ich mir.«
»Aber warum lügst du für Philipp?«, fragte Tessa vollkommen ratlos.
Sie erhielt keine Antwort.
Stattdessen rief jemand hinter ihr: »Gut gemacht«. Sie drehte sich um und sah Koster zusammen mit Paul in der Tür stehen. Die beiden mussten bereits eine Weile zugehört haben. »Danke«, sagte er freundlich zu ihr.
»Warum erzählt Philipp so etwas Albernes?« Tessa hatte die Tragweite der Aussage des Mädchens nicht verstanden.
»Das fragen wir ihn «, sagte Koster. » Sie wollte ich fragen, ob Maria Rosenstein heute vorbeikommt, um die Sachen ihrer Mutter abzuholen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht. Sie hat nichts davon gesagt.« Tessa war irritiert. Der plötzliche Umschwung zu Maria Rosenstein verwirrte sie nur noch mehr.
»Ich wollte sie fragen, welche Freundin ihrer Mutter Alba heißt, aber ich kann sie auch anrufen.« Koster zögerte einen Moment, und mit Blick auf die Patienten fuhr er kryptisch fort: »Ich habe Ihnen die Unterlagen mitgebracht, über die wir gesprochen haben. Ich freue mich, wenn Sie bald reinschauen.«
Tessa nahm den dicken Umschlag, den er ihr entgegenhielt, und seufzte. »Das mache ich gleich. Ich brauche sowieso eine Auszeit.«
»Ob diese Unterlagen eine Auszeit bedeuten, wage ich zu bezweifeln, aber … Ich rufe Sie heute Nachmittag an. Dann sehen wir, wie weit Sie gekommen sind.« Dann zwinkerte er Liebetrau zu. »Komm Liebchen, bringen wir’s hinter uns.«
*
David Brömme hatte geholfen, Kiana auf ihr Zimmer zu bringen, damit sie sich ein bisschen ausruhen konnte. Das Mädchen war vollkommen überfordert mit der Situation. Aber das
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