Nacht ohne Ende
Revolver geschossen hatte. »Vorhin war die Situation hier drinnen ein oder zwei Minuten lang ein bisschen brenzlig, aber inzwischen ist wieder alles unter Kontrolle. Die beiden Männer, die den Tumult verursacht haben, sind gebändigt worden«, fügte sie hinzu, wobei sie Docs euphemistischen Ausdruck gebrauchte.
»Sie sprechen von den beiden Mexikanern?«
»Genau.«
»Sie haben sie überwältigt?«
»Richtig.«
»Und wo ist Agent Cains Revolver jetzt?«
»Doc hat ihn Ronnie gegeben.«
»Wie bitte?«
»Als ein Zeichen des Vertrauens, Mr. Calloway«, erwiderte sie gereizt zu Docs Verteidigung.
Der FBI-Agent stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Das ist aber verdammt viel Vertrauen, Ms. McCoy.«
»Es war das Richtige. Aber um das zu verstehen, müssten Sie schon hiersein.«
»Das scheint mir auch so«, erwiderte er trocken.
Während sie mit Calloway sprach, hörte sie mit einem Ohr auf Doc, der noch immer versuchte, Ronnie dazu zu überreden, aufzugeben und sich der Polizei zu stellen. Sie hörte ihn sagen: »Sie sind jetzt Vater, Ronnie. Sie sind für Ihre Familie verantwortlich. Sabras Zustand ist sehr kritisch, und es gibt nichts mehr, was ich noch für sie tun könnte.«
Calloway fragte: »Sie fühlen sich nicht durch Ronnie bedroht?«
»Nein, in keiner Weise«, erklärte Tiel.
»Ist irgendeine der anderen Geiseln in Gefahr?«
»Im Moment nicht, nein. Ich kann allerdings nicht voraussagen, was passieren wird, wenn diese Typen in schusssicheren Westen den Laden stürmen.«
»Ich habe nicht die Absicht, diesen Befehl zu erteilen.«
»Warum sind diese Scharfschützen dann überhaupt da?«, fragte Tiel. Calloway schwieg einen langen Moment, und Tiel hatte das deutliche und unbehagliche Gefühl, dass er ihr etwas vorenthielt, etwas Wichtiges. »Mr. Calloway, gibt es da etwas, was ich wissen sollte -«
»Wir haben es uns anders überlegt.«
»Was? Sie meinen, Sie geben auf und ziehen Ihre Leute ab?« Das wäre in diesem Augenblick ihr sehnlichster Wunsch.
Calloway ignorierte ihre spaßige Bemerkung. »Das Videoband war äußerst effektiv. Sie werden sicher froh sein zu hören, dass es genau die Wirkung erzielt hat, die Sie sich erhofft hatten. Mr. Dendy war über den Appell seiner Tochter erschüttert und ist jetzt bereit, Zugeständnisse zu machen. Er möchte, dass diese Sache friedlich und ohne Blutvergießen endet. Wie wir alle. In welcher Gemütsverfassung ist Ronnie zurzeit?«
»Doc bearbeitet ihn gerade.«
»Und wie reagiert er darauf?«
»Positiv, denke ich.«
»Gut. Das ist gut!«
Calloway klang erleichtert, und wieder hatte Tiel den Eindruck, dass ihr der FBI-Agent etwas vorenthielt, was sie besser wissen sollte.
»Glauben Sie, er wird sich auf eine bedingungslose Kapitulation einlassen?«
»Er hat die Bedingungen, unter denen er sich ergeben würde, genau spezifiziert, Mr. Calloway.«
»Dendy wird zugeben, dass es sich hierbei um einen Ausreißversuch handelte und nicht um eine Entführung. Natürlich würden die anderen Anklagepunkte bestehen bleiben.«
»Und die beiden müssen ihr Kind behalten dürfen«, erwiderte Tiel.
»Das hat Dendy bereits vor einigen Minuten zugesichert. Wenn Davison sich mit diesen Bedingungen einverstanden erklärt, wird er meine persönliche Garantie dafür haben, dass keine Gewalt gegen ihn angewendet wird.«
»Ich werde die Nachricht weitergeben und mich dann wieder mit Ihnen in Verbindung setzen«, erklärte Tiel.
»In Ordnung. Ich warte dann auf Ihren Rückruf.«
Tiel legte auf. Ronnie und Doc wandten sich zu ihr um. Tatsächlich hörten alle Anwesenden gespannt zu. Anscheinend war ihr die Rolle der Vermittlerin zuteil geworden, eine Rolle, über die sie alles andere als glücklich war. Angenommen, es ging trotz der besten Absichten aller Beteiligten irgendetwas schief? Wenn diese Geiselnahme in einer Katastrophe endete, würde sie sich für den Rest ihres Lebens die Schuld an dem tragischen Ausgang geben.
Im Laufe der vergangenen Stunden hatten sich Tiels Prioritäten verschoben. Es war ein ganz allmählicher Prozess gewesen, und bis zu diesem Augenblick hatte sie noch nicht einmal gemerkt, dass er überhaupt stattgefunden hatte. Die Nachrichtenstory war inzwischen zu einer Angelegenheit von untergeordneter Bedeutung geworden. An welchem Punkt hatte sie begonnen, nur noch eine zweitrangige Rolle zu spielen? Als sie Sabras Blut an ihren behandschuhten Händen gesehen hatte? Als Juan Katherines zerbrechliches Leben bedroht hatte?
Die
Weitere Kostenlose Bücher