Nacht ohne Ende
Ladendecke explodierte praktisch und ließ einen Regen von Glassplittern und Metallstückchen herabregnen.
Instinktiv schreckte Tiel vor dem ohrenbetäubenden Lärm zurück. Aber die Kamera war nicht von selbst explodiert. Ein junger Mann war in den Laden gestürmt und hatte mit einer Pistole auf die Videokamera gefeuert. Dann zielte er mit seiner Waffe auf die Kassiererin, die ein schrilles Kreischen ausstieß, bevor der Schrei in ihrer Kehle zu erstarren schien.
»Dies ist ein Überfall!«, brüllte er melodramatisch und ziemlich überflüssig, da unschwer zu erraten war, was es war.
Zu der jungen Frau, die ihn in den Laden begleitet hatte, sagte er: »Sabra, behalte die anderen im Auge. Warne mich, wenn sich irgendjemand bewegt.«
»Okay, Ronnie.«
Tja, ich könnte hierbei draufgehen, dachte Tiel. Aber wenigstens werde ich meine Story bekommen.
Und sie würde nicht erst nach Hera fahren müssen, um sie zu bekommen. Die Story war zu ihr gekommen.
2
»Sie da!« Ronnie Davison wedelte mit seiner Pistole auf Tiel. »Kommen Sie hier rüber. Legen Sie sich auf den Boden!« Unfähig, sich zu rühren, glotzte sie ihn nur mit offenem Mund an. »Sofort!«
Sie ließ ihr Päckchen mit den Sonnenblumenkernen und den Sechserpack Cola fallen, hastete zu der Stelle, auf die er wies, und legte sich wie befohlen mit dem Gesicht nach unten auf den Fußboden. Nun, da sie sich von dem ersten lähmenden Schreck erholt hatte, musste Tiel sich auf die Zunge beißen, um ihn nicht zu fragen, warum er eine Entführung noch durch einen bewaffneten Überfall verschlimmerte.
Aber sie bezweifelte, dass der junge Mann in diesem Moment für Fragen empfänglich sein würde. Außerdem sollte sie vielleicht besser nicht enthüllen, dass sie Reporterin war und sowohl seine Identität als auch die seiner Komplizin kannte, bis sie wusste, was er mit ihr und den anderen Augenzeugen vorhatte.
»Kommen Sie hierher und legen Sie sich hin!«, befahl er dem älteren Ehepaar. »Das gilt auch für Sie beide!« Er zeigte mit der Schusswaffe auf die Mexikaner. »Na los! Bewegen Sie sich!«
Die alten Leute gehorchten ohne Widerworte. Die beiden Mexikaner blieben, wo sie waren. »Wenn ihr nicht sofort hier rüber kommt, knall ich euch ab!«, brüllte Ronnie.
Tiel hielt den Kopf gesenkt und richtete ihre Worte an den Fußboden, als sie sagte: »Die beiden sprechen kein Englisch.«
»Mund halten!«
Ronnie Davison durchbrach die Sprachbarriere und machte sich verständlich, indem er mit seiner Pistole herumfuchtelte. Mit langsamen, zögernden Schritten kamen die beiden Männer näher und legten sich neben Tiel und das ältere Ehepaar auf den Boden.
»Verschränken Sie die Hände hinter dem Kopf!«
Tiel und die anderen taten wie befohlen.
Im Laufe der Jahre hatte Tiel über Dutzende von Raubüberfällen und dergleichen berichtet, bei denen nur zu oft unschuldige Umstehende, die zufällig Augenzeugen eines Verbrechens geworden waren, tot am Tatort gefunden wurden - bäuchlings auf dem Boden ausgestreckt, mit einem Schuss in den Hinterkopf hingerichtet, und das einzig und allein aus dem Grund, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Sollte ihr, Tiels, Leben auch auf diese Weise enden?
Seltsamerweise fühlte sie nicht so sehr Angst als vielmehr Wut. Sie hatte doch noch längst nicht alles getan, was sie in ihrem Leben tun wollte! Snowboardfahren sah nach einem echten Spaß aus, aber sie hatte bisher noch keine Zeit gehabt, es auszuprobieren. Berichtigung: Sie hatte sich nie die Zeit genommen, es auszuprobieren. Sie hatte auch noch nie eine Rundfahrt durch das Napa Valley gemacht. Sie wollte Paris wiedersehen, nicht als Schülerin einer High-School- Klasse unter strenger Aufsicht, sondern allein, um auf eigene Faust und ganz nach Lust und Laune die Boulevards entlangzuschlendern.
Es gab so viele Ziele, die sie noch erreichen musste. Wenn sie nur an all die Storys dachte, über die sie nicht mehr würde berichten können, wenn ihr Leben jetzt endete. Nine Live würde kampflos an Linda Harper fallen, und das war echt ungerecht.
Aber nicht alle ihre Träume waren karriereorientiert. Sie und einige ihrer Freundinnen, die ebenfalls Singles waren, witzelten manchmal über ihre biologische Uhr, aber insgeheim bereitete Tiel ihr unaufhörliches Ticken großen Kummer. Wenn sie heute Nacht starb, würde der Wunsch nach einem Kind nur einer von vielen Träumen sein, die unerfüllt blieben.
Und dann war da noch diese andere Sache. Die
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