Nacht ohne Schatten
geht. Gift gegen die Müdigkeit. Sie unterdrückt einen Hustenreiz, nimmt noch einen Zug. Auf einmal ist die Sehnsucht wieder da. Ein Gegner von innen. Vor ein paar Jahren hat Judith mal an einem Zeitmanagementseminar teilgenommen. Sie sollten die Aufgaben eines Ermittlungstages in Kategorien einteilen. Sehr wichtig, sehr dringend, weniger wichtig und so weiter. Sie hat die Unterteilung nicht geschafft, schafft sie noch immer nicht. Sie tritt die Zigarette aus, startet den Wagen. Wichtig ist ihr, dass sie duscht, frische Sachen anzieht, etwas isst. Noch wichtiger ist es, Cora dazu zu bringen, ihr zu helfen, sie zu treffen, sich mit ihr zu versöhnen. Wichtig, aber nicht dringend. Oder doch? Dringend ist es, einen Mörder zu finden, der höchstwahrscheinlich weiter töten wird, wenn das nicht gelingt. Dringend und wichtig. Für die Gerechtigkeit, die Opfer und vielleicht sogar für ihre eigene berufliche Existenz. Ein Wochenende. 48 Stunden, zu wenig Zeit. Es ist vollkommen unnütz, sich auch noch mit irgendwelchen Managementrastern zu quälen.
Gero Sanders oder Alexander Nolden? Sie kann sich nicht entscheiden, füttert das Navigationssystem schlieÃlich mit der Adresse des Eskortservices, die sie Diddl Makowski unter diversen Rüpeleien seinerseits entrungen hat, der Vollständigkeithalber, auch wenn sie immer noch überzeugt ist, dass die Lösung nicht dort liegt, sondern in der Kunstfabrik.
Sie lenkt den Wagen in den Berufsverkehr, vorbei an der hell erleuchteten Unterwäschereklame an den Seitenwänden der Bushaltestellen. Spitzentangas und fast durchsichtige BHs auf nackter Mädchenhaut, lächelnde Gesichter. Makellos. Verfügbar. Austauschbar. Das Problem ist, dass solche Bilder allgegenwärtig sind, dass sie sich ins Unterbewusstsein graben, Definitionsmacht erhalten, ob man das will oder nicht. Sie verändern die Wirklichkeit, auch wenn das objektiv nicht messbar ist. Die Wirklichkeit von Frauen und Männern, genauso wie die Legitimierung von Prostitution das tut. Klasse, Judith, wirklich klasse, schreib das am besten in deinen Bericht. Noch ein paar feministische Grundsatzthesen über die Pornografisierung der Gesellschaft zur Erbauung deiner Kollegen, die leider vollkommen irrelevant für die Ermittlungen sind, oder etwa nicht? Das Traurige ist, dass etwas verloren geht, denkt sie. Individuelle Erotik. Geheimnis. Respekt.
Die Eskortagentur befindet sich in einem unauffälligen Bürogebäude unweit des Messegeländes, was auf eine fruchtbare geschäftliche Verbindung schlieÃen lässt. Die Agentin, die Nada damals betreut hat, ohne ihr Gewerbe angemeldet zu haben, heiÃt Nicola Struwe. Eine attraktive Frau Anfang dreiÃig, die ebenso gut als Bankangestellte durchgehen könnte. Sie trägt ein Kostüm, dezenten Schmuck und Make-up und beantwortet zuvorkommend Judiths Fragen, betont immer wieder, dass all ihre Mädchen freiwillig arbeiteten und selbstverständlich jederzeit den sexuellen Kontakt mit einem Kunden ausschlagen dürften, wenn er ihnen nicht gefalle. Etwa ein halbes Jahr habe Nada für sie gearbeitet, immer sehr selbstbestimmt, sie erinnere sich gut.
»Warum hat sie sich beworben?«
»Sie brauchte Geld. Sie fand es aufregend.«
»Aufregend.«
Nicola Struwe lächelt. »Für meine Mädchen ist dieser Jobein sehr stilvoll arrangiertes und gut bezahltes erotisches Abenteuer. Es gibt ihnen Selbstbewusstsein, steigert ihr Empfinden der eigenen Attraktivität. Und die Männer freuen sich, für ein paar Stunden eine Begleiterin zu haben, ohne all die lästigen Pflichten, die es in einer festen Beziehung nun einmal gibt.«
»Warum hat Nada dann wieder aufgehört?«
»Sie bekam ein Stipendium. Ich habe vergebens versucht, sie zu halten. Im Herzen ging es ihr nur um die Kunst.«
»Und jetzt arbeitet sie nicht mehr für Sie?«
»Leider nicht.«
Ein Essen oder ein Konzert. Ein paar Stunden in einem Hotel. Sauber und anonym. Vielleicht ist es ja tatsächlich so einfach, denkt Judith, später, als sie wieder auf der StraÃe im Regen steht. Vielleicht sehe bloà ich überall Gespenster, Frauen als Opfer, benutzt und missbraucht. Aber ein Teil von ihr glaubt nicht, dass es so einfach ist. Glaubt vielmehr, dass das Selbstbewusstsein, von dem Nicola Struwe spricht, unecht ist, aufgesetzt, nur ein verzweifeltes Bemühen zu gefallen. Weil es immer noch Männer
Weitere Kostenlose Bücher