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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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sind, die die Regeln bestimmen, und Frauen, die versuchen, sie zu befolgen, ob als Opfer oder als Mittäterin. Und davon abgesehen glaubt sie, dass es Gefühle gibt, Verletzlichkeit und, ja verdammt, auch Liebe. Und was passiert, wenn eine schöne junge Frau an den Falschen gerät?
    * * *
    Â»Sehen Sie sich diese Wunde ganz genau an.« Ekaterina zeigt mit dem Laserpointer auf ein weiteres Bilddokument aus ihrer Powerpoint-Präsentation. Seit Tagen hat sie sich Sorgen gemacht, wie sie diese Podiumsdiskussion mit Ärzten und Sozialarbeitern zum Umgang mit Opfern von häuslicher Gewalt wohl überstehen wird. Sie war nervös, unzufrieden mit ihren Vorbereitungen. Doch sobald sie ans Rednerpult getreten ist, ist ihre Unsicherheit verflogen. Und selbst die Oberärztin, die sie vorhin auf der Damentoilette, wo Ekaterina Lidschattenund Lippenstift auffrischte, angestarrt hat wie eine Außerirdische, hat aufgehört, herablassend zu lächeln, seit Ekaterina das Wort übernommen hat, sondern macht sich Notizen.
    Eine junge Ärztin meldet sich.
    Â»Das ist das Brandmal einer ausgedrückten Zigarette, das haben wir oft.«
    Ekaterina nickt. »Möglich. Wahrscheinlich. Aber das dürfen Sie so auf keinen Fall in die Patientenakte schreiben.«
    Â»Warum nicht?«
    Â»Weil es eine Spekulation ist, die vor Gericht – falls es denn zu einem Prozess kommt – so leider nicht ohne Weiteres verwendet werden kann.«
    Â»Aber es ist doch ganz eindeutig«, protestiert die Oberärztin aus dem WC.
    Â»Wirklich?« Ekaterina sieht ihr für einen Augenblick direkt in die Augen. »Die Wunde könnte doch auch durch einen glühenden Eisenstab verursacht worden sein. Oder durch elektrischen Strom.«
    Â»Und was sollen wir nun schreiben?« Wieder die junge Ärztin.
    Ekaterina lächelt. »Sie sind Wissenschaftler. Halten Sie sich an die Fakten. Beschreiben Sie so genau wie möglich, was Sie sehen. Größe, Form, Farbe, Tiefe der Wunde. Beschaffenheit. Sind die Wundränder ausgefranst oder glatt? Wie viele Wunden sind es? Wo genau befinden sie sich auf dem Körper? Seien Sie konkret, benutzen Sie die korrekten anatomischen Bezeichnungen. Fotografieren Sie den Befund, wenn es möglich ist. Am besten mit einem Vergleichsmaßstab. Hier«, sie klickt aufs nächste Bild. »Dies ist die Med-Doc-Card, die meine Kollegin Antje Schmitt-Mergel entwickelt hat.«
    Sie hält das Original in die Luft. »Sie passt in jede Arztkitteltasche. Darauf sind alle wichtigen Fragestellungen für eine gerichtlich verwertbare Befunddokumentation skizziert und außerdem noch einige Hinweise und Formulierungsvorschläge, die Ihnen beim Umgang mit Gewaltopfern helfen.«
    Die junge Ärztin meldet sich. »Es ist so frustrierend, wenn die Frauen immer wiederkommen.«
    Â»Ja«, sagt Ekaterina zu ihrer eigenen Überraschung. »Das verstehe ich gut. Das ist auch für mich frustrierend. Und doch ist die neutrale und vollständige Dokumentation der Verletzungen sehr wichtig. Denn nur, wenn die existiert, kann sie einer misshandelten Frau vor Gericht wirklich nützen, sofern sie sich irgendwann zu einer Anzeige gegen ihren Mann entschließt.«
    Cornelia Offinger beugt sich zum Mikrofon, hält einen auf fünf mal fünf Zentimeter zusammengefalteten Flyer hoch. »Hier drin finden betroffene Frauen alle Adressen, bei denen sie Hilfe bekommen. Legen Sie diese Flyer in Ihren Arztpraxen aus. Geben Sie sie Ihren Patientinnen, wenn Sie den Verdacht haben, dass sie misshandelt werden. Die Frauen haben oft Angst und brauchen lange, um sich zu entscheiden, ihren Mann zu verlassen. Aber dieses winzige Faltblatt lässt sich gut vor den Augen eines misstrauischen Ehemanns verstecken, und wenn es dann so weit ist, benutzen die Frauen es auch.«
    Es läuft gut, wird Ekaterina bewusst, während sie weitere Falldokumentationen erläutert und Fragen beantwortet. Wirklich gut. Vielleicht hat das Projekt ja sein Gutes, vielleicht ist es sogar heilsam, und es ist Zeit für sie, heimisch zu werden. Allein, in einer Stadt ohne Schnee, mit einem Kater, der den Leitstern des Nordens auf seiner Brust trägt.
    Es ist ein neuer Gedanke, beängstigend und verführerisch zugleich, denn solange sie sich erinnern kann, hatte Ekaterina fliehen wollen. Sie wollte nichts hören von der Unterdrückung ihrer Vorfahren. Sie wollte vergessen, was auf der

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