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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Insel im weißen Meer geschehen ist. Unzeit nannte sie diese ersten Lebensjahre bei sich, später, als sie wieder sprechen konnte und manchmal sogar lachen und hoffen. Zeit, die niemals hätte geschehen dürfen. Tote Zeit. Die Großmutter, zu der sie nach dem Tod der Eltern gebracht wurde, nahm sie auf, ließ sie in Ruhe, schloss sie in die Arme, ließ ihr Zeit. Er ist am Alkoholkaputtgegangen, dein Vater, Katjuschka. Er hat die dunklen, untätigen Winter nicht ertragen und dass deine Mutter die Freiheit liebte und das Alleinsein brauchte wie Luft. Er konnte ihr das nicht austreiben, weil sie eine Sami war. Eine Sami wie ich und meine Mutter, und auch du, Katja, trägst unser Blut.
    Sami. Lappin. Nomadin. Schamanin. Keine Russin. Das machte Ekaterina Angst. Sami, ein Volk, das sich nach Sonne und Wind benannte und mit seinen Rentierherden von Winterzu Sommerweiden zog, über die Berge und durch die Taiga, bis die Staatsmächte Grenzen errichteten, die alten Götter verboten, ihre Insignien verbrannten, die Sprache verboten und damit die Identität. Es gibt nicht viele Sami in Russland, Katja, du bist etwas ganz Besonderes. Die Großmutter zeigte ihr den Mantel und die heiligen Trommeln mit den vielen, jahrtausendealten Symbolen darauf. Die haben deiner Urgroßmutter gehört. Mir hat sie sie vererbt. Eines Tages gehören sie dir. Doch das wollte Ekaterina auf keinen Fall, und es ist der Großmutter hoch anzurechnen, dass sie das akzeptierte.
    Oder nicht? Wartet sie nur ab? Weiß sie womöglich etwas, das Ekaterina selbst noch nicht sieht? Weiß, dass Ekaterinas Umweg über Deutschland, das Studium, die Rechtsmedizin, die Erforschung der Toten nichts anderes ist als eine zielgenaue Vorbereitung auf das Erbe, das sie doch eigentlich niemals antreten wollte?
    Komm, Katjuschka, singen wir einen Joik. Ekaterina denkt an den Fuchs auf dem Friedhof, an Tjuollda, den Kater. Etwas hat sich verändert, sie kann nicht mehr ausweichen. Sie ist zum zweiten Mal durch die Hölle gegangen und hat überlebt. Auf einmal fühlt sie sich unendlich müde, als wäre sie einen sehr weiten Weg gelaufen und hätte nun eine Pause verdient.
    Die Tür zum Vortragsraum öffnet sich, kurz bevor die Diskussion beendet wird. Ekaterina zwingt sich zur Ruhe, als sie die Kommissarin Judith Krieger erkennt. Ich will nach Hause, denkt sie, will mich um Tjuollda kümmern. Ich werde ihr das sagen. Aber das ist gar nicht nötig, denn auf einmal bemerktsie, wie Cornelia Offinger die Kommissarin anstarrt. Und auch Judith Krieger hat nur Augen für die Frauen-für-Frauen-Leiterin.
    * * *
    Sie wird Cora treffen, gleich nachher. Es ist ihr schließlich doch gelungen, die Schutzmauer, mit der die einstige Freundin sich von ihr abschotten wollte, zu durchbrechen. Ich warne dich, Judith Krieger, ich lasse mich nicht benutzen, hat Cora gesagt, als sie Judith nach der Podiumsdiskussion gegenübertrat. Ich brauche deine Hilfe, Cora. Und ich habe dich vermisst, hat Judith erwidert. Und das ist die Wahrheit, denkt sie, während sie in ihrem Badezimmer endlich unter der Dusche steht. Ich habe dich viel mehr vermisst, als ich es mir all die Jahre eingestanden habe. Deine Wärme. Deine Intelligenz. Deine Unbestechlichkeit. Deine Fähigkeit, auch die schmerzlichste Niederlage irgendwann mit einem lauten, kullernden Lachen ins Groteske zu verkehren, damit du wieder aufstehen kannst.
    Sie spült das Shampoo aus ihren Haaren, genießt das Prasseln des warmen Wassers auf Schultern und Kopf. Sie hat sich eine Pause verordnet, nachdem sie Gero Sanders weder in seinem Journalistenbüro noch in seiner Wohnung in der Südstadt antraf, die von ihrer eigenen Wohnung gar nicht so weit entfernt liegt. Zuerst wollte sie ihn anrufen, hat sich dann aber vorerst dagegen entschieden, weil eine Vernehmung ohne Vorwarnung oft effizienter ist. Jetzt steht noch Alexander Nolden auf ihrem Programm, bevor sie Cora treffen wird.
    Judith zieht frische Sachen an und föhnt ihre Haare halbwegs trocken, bevor sie über das Thunfischbaguette herfällt, das sie unterwegs gekauft hat. Erst dann führt sie die Telefonate, die auf ihrer Liste stehen. Ralf Meuser, die KTU, Manni. Er meldet sich unwirsch, außer Atem, wie so oft in letzter Zeit, wenn er denn überhaupt an sein Handy geht.
    Â»Ralf Meuser hat Nadas Konten geprüft. Lauter legale Einkünfte. Brav versteuert noch dazu. Die letzte

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